Am Fusse des Hügels, auf welchem das alte Schloss Ruchenberg steht, streift ein steiniges Tobel vorbei. Das muss man durchschreiten, wenn man durch den dunkeln Wald, wo das Alaräunchen wohnt, seinen Weg nach Ruchenberg nimmt. Dieses Tobel heisst Scalära. Das Scaläratobel nimmt seinen Anfang weit oben im Gebirg am Montelin, der höchsten Spitze des Hochwangs, windet sich durch schauerliche Schlüchte hinaus und mündet in das Rheintal unweit Chur. In diesem Tobel, dessen Name schon die Umwohner mit Schauder und Entsetzen erfüllt, vernimmt man ein grauenhaftes Getöse. Zwischen nackten himmelhohen Felswänden donnert und kracht es unaufhörlich, und man nimmt am Tage nichts wahr als Schutt und Gestein. Nachts aber hört man bis Trimmis ein entsetzliches Geheul. Ist es Mitternacht geworden, so steigen aus tausend Klüften und Felsspalten menschliche Gestalten hervor. Das sind die verstorbenen Bürgermeister, Ratsherren, Vögte und andere Bürger der Stadt Chur. Sie machen allerlei seltsame Gebärden. Die Vornehmen reiten auf weissen Schimmeln und wenn sie alle versammelt sind, eine unabsehbare Volksmenge, dann setzt sich der Zug in Bewegung, die Reiter voran, der letztverstorbene Bürgermeister an der Spitze der Reiterei. Es geht hinunter durch das Tobel, über die Landstrasse und durch das Gebüsch bis an den Rhein. Dort tränken sie die Pferde; der Zug wendet um, und er kehret schweigend wieder in die Schluchten zurück. So geht es jede Nacht, aber nicht jeder kann die Geister sehen, die hier ewig ihren Aufenthalt haben. Wenn ein angesehener Bürger stirbt, dann wird es allemal besonders lebhaft im Scalära, und man hört das Rufen und Getöse in weiter Entfernung.
Quelle: Theodor Vernaleken, Alpensagen - Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung www.maerchenstiftung.ch