Zwischen Wallis und dem südwestlichen Berner-Oberlande liegt der Saanetschgletscher, dem die Saane entfliesst. Auf der Walliser Seite ist der sogenannte verlorene Berg, eine grausige Wüste, wo man nur Schutt und Steingerölle sieht, nur selten einen Grashalm. Von diesem Berge geht folgende Sage:
Vor einigen hundert Jahren enthielt dieser Berg grasreiche Weiden, und im Sommer sah es hier sehr lebhaft aus, wo jetzt der Tod herrscht. Unten im Tale wohnte ein sehr reicher Landmann in einem stattlichen Hause; von demselben bis zu seinem Staffel auf der höchsten Alp hätte er einen breiten Weg mit Käse bepflastern und belegen können, so reichlich waren seine Keller damit versehen. Bei aller seiner Wohlhabenheit war er aber auch entsetzlich filzig und geizig. Ärmlich kleidete er Frau und Kinder, und kaum gönnte er den Seinen und den Knechten und Mägden die schlechteste Nahrung. Kam ein Bettler und bat um ein Almosen, so wies er ihn schnöde, mit harten Worten ab. Einst wankte ein altes, krankes Mütterchen daher, und flehte um ein Stück Brot und um einen Trunk Milch, weil es vor Hunger und Durst verschmachte; aber der Reiche schmetterte die Haustüre, gegen das Bettelgesindel scheltend und polternd, hinter sich zu. Vor Schrecken sank die Arme ohnmächtig dahin. Ein vorübergehender Bettler erbarmte sich ihrer; selbst dürftig kannte er die Not anderer, teilte mit ihr ein Stück schwarzes Brot, das sie labte und stärkte, und holte ihr aus dem nahen Brunnen einen kühlenden Trank. Erquickt und wohlgemut ob der menschenfreundlichen Hilfe von ihresgleichen erklomm sie langsam, auf einen Stab gestützt, den steilen Berg in Begleitung ihres Wohltäters. Oben trennten sie sich; vorher aber warf sie noch einen wehmütigen Blick auf die Wohnung des hartherzigen Reichen im Tale.
Kurze Zeit hernach ereignete es sich, dass fürchterliche Stürme, mit Donner und Blitz und Erdbeben begleitet, den nahen Untergang der Welt anzukünden schienen. Zitternd verkroch sich jedermann in seiner Stube; nur der Reiche sah stolz und höhnend dem Brausen der Elemente zu. Aber siehe! Mit donnerähnlichem Knalle und Toben löset sich vom höchsten Gipfel des Saanetsch eine ungeheure Masse von Fels und Eis, alles verwüstend, mitreissend und verheerend, mit Blitzesschnelle in die Tiefe. Und verschwunden waren die grasreichen Triften, die üppigen Wiesen; keine Spur von dem Hause des Reichen war vorhanden; ringsumher ward alles eine unfruchtbare Wüste.
Theodor Vernaleken: Alpensagen - Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.