Auf den Surenen-Alpen

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Auf den Surenen-Alpen zwischen Engelberg und Uri hat man eine eigentümliche Überlieferung, die aus einem andern Frevel das Verwildern der Bergtrift entstehen lässt. Vor langen Jahren, heisst es, kam einer Rotte mutwilliger Jungen in den Sinn, einen Widder zu taufen. Da ward zur Strafe dieser Ruchlosigkeit ein entsetzliches Ungeheuer aus dem Widder, und Schafe, Rinder, Kühe, selbst Menschen in Unzahl wurden von ihm zerrissen, also dass die Gegend öde ward und immer wilder aussah. Nach langem aber zog ein fremder fahrender Schüler des Weges. Der war kundig geheimer Künste und gab dem betrübten Volke Rat, wie es sich helfen könnte. Er gebot, sie sollten das Erstlingskalb von einer starken Kuh nehmen und es zwölf Jahre lang säugen lassen, jedes Jahr durch eine Kuh mehr, bis ihrer ebenfalls zwölf sein würden und das Kalb erstarkt wäre zum fürchterlichen Stier. Dann sollten sie eine reine Jungfrau wählen, die an ihren Haarschnüren dieses Ungetüm auf die Alp hinführte, wo es ihnen Ruhe schaffen könne. Die Hirten taten das. In wenig Jahren wuchs das Kalb zu einer Grösse, dass man eine hohe Bühne für die Kühe bauen musste, an denen es forthin saugen sollte. Endlich kam die festgesetzte Zeit, und als das rechte Mädchen auserkoren war, so zog der Riesenochse, sonst unbändig, ihm still und gehorsam nach. Es schritt an dem Bergabhang weit empor bis zu einem grossen Steine, welchen es erkletterte, und wo es den Geführten von der Schnur entliess. In kurzem brach das Untier des Berges mit schrecklichem Gebrülle daher, und ein furchtbarer Kampf erhob sich mit dem Ochsen, bis jenes tödlich verletzt erlag. Da trank der erhitzte Stier aus einem nahen Quell, und fiel plötzlich leblos zu Boden. Aber die Oberfläche des Berges kehrte nie zur alten Herrlichkeit zurück, er ist auch jetzt noch rau und steinbedeckt und nicht so kräuterreich als er vordem gewesen. Man sagt auch, die Klauen der Hinterfüsse des Stieres hätten sich so tief in den Stein geprägt, dass ihre Spuren bis auf den heutigen Tag sichtbar seien.

Theodor Vernaleken: Alpensagen - Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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