In Castelen auf dem Schlosse diente eine fromme Magd Lisette beim Landvogt Bucher. Da hatte sie bald Gelegenheit, ihre Reinheit zu bewähren. Denn als sie einmal Holz vom Estrich des Schlosses in die Küche tragen wollte, sah sie sich droben ganz fühlbar von einem Arme aufgehalten. Erschrocken eilte sie die lange Treppe hinab und suchte sich das Gesehene wieder auszureden. Aber es wiederholte sich. Jetzt erklärte sie ihrer Herrschaft den festen Vorsatz, nie mehr jenen unheimlichen Ort betreten zu wollen. Der Landvogt beruhigte sie aber und stellte es ihr als ein von der Frömmigkeit gebotenes Werk dar, wenn sie das nächste Mal der Erscheinung Stand halte und dieselbe befrage. Mit Todesangst gieng das Mädchen wieder zum gefährlichen Platz. Jener Arm blieb ebenfalls nicht aus. Auf ihre nunmehrige Frage gestaltete sich auch ein Oberleib und eine Stimme sprach: „Bete für mich, dann werd ich erlöst!" Sie wollte es versprechen, aber bereits war der Spuk wieder verschwunden. Schon meinte Lisette, durch ihr langes, eifriges Gebet einen Sünder erlöst zu haben, da trat ihr eine Gestalt grün und nach altfränkischem Schnitte gekleidet entgegen. Er bat, doch diesen feurigen Splitter hier vornen aus den Zähnen zu ziehen und durch den Schornstein hinabzuwerfen. Ohne eigentlich hinzublicken, that sie's. Die Gestalt verschwand unter grossem Danke und dem Versprechen, nicht mehr zu kommen.
Die Magd that mit jenem Splitter, wie ihr befohlen war. Der fuhr laut prasselnd durch den Schornstein hinunter. Aber trotz des gegebenen Wortes erschien der Geist bald noch einmal. Nun musste sie seinen grünen Rock nehmen und ebenfalls durch den Schornstein werfen. „Jetzt ist's endlich Ruhe,“ sprach der Geist, „habe Dank. Hinfort will ich dich nicht mehr plagen." Damit verschwand er. Froh legte sich nun Lisette abends zu Bette, im Bewusstsein einer guten That. Aber wer beschreibt ihr Entsetzen, als sie am Morgen niemand anders im Schlafzimmer erblickte, als wieder den Geist. „Willst du mich denn ewig verfolgen?" schrie sie. „Fürchte nichts," erwiderte dieser freundlich, „nur noch eins fehlt mir zur gänzlichen Ruhe. Thue mir auch dieses. In Bern habe ich noch Söhne, die muss ich warnen, bessere Wege zu gehen. Begleite mich nach Bern, und du wirst glücklich sein. Dort werden dir meine Söhne eine grosse Summe auszahlen. Aber in tiefem Schweigen musst du diesen Weg wandern.“
Der Tag der Abreise wurde auf die nächste Woche festgesetzt. Der Landvogt wusste von allem. Da begann eine neue Verwicklung. Auf der Schlosswiese trat ihr ein schön gekleideter Herr entgegen, und bat sie sehr höflich, ihm ihren Namen zu sagen, und fast zugleich rief eine zweite Stimme aus den Schlossfenstern herunter: „Lisette Pagan, nicht!" Sie weigerte sich standhaft, auch als er ihr stumm ein Blatt vorhielt, worauf sie nur ihren Namen schreiben sollte. Nun wurde sie im Traume mit Bildern gequält, wie ihr ein Gärtner die Schürze voll Goldstücke vorhalte, damit sie ihm ihren Namen schreibe; oder wie bei ihrem Widerstreben eine Stimme höhnte:
„Kurzer Muth, lange Züpfen,
Kleines Herz und lange Jüppen.“
So kam endlich die andere Woche herbei und die Magd sollte fort. Mit schwerem Herzen gieng Lisette auch noch an dies letzte Werk.
Vom Geiste merkte sie auf dem Wege nichts. Nur schien immer jemand neben ihr zu sitzen oder gleichen Schrittes hinter ihr drein zu gehen. Als sie zum Klösterlein Frienisberg kamen, sagte der Unsichtbare zu ihr: „Hier habe ich gesündigt. Hier habe ich das von meinen frommen Ahnen gestiftete Almosen den Armen abgedrückt, Wittwen und Waisen betrogen. Darum musste ich noch zu dir kommen und meine Schuld aufdecken." Von hier weg gewahrte sie ihn nicht mehr, bis sie nach Bern kam. Da gieng er bald zu ihrer Rechten, bald zur Linken, und klopfte ihr freundlich auf die Schultern. Hier wurde das Erlösungswerk vollbracht. Das versprochene Geld erhielt sie richtig, und wanderte damit wieder heim.
E. L. Rochholz,Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 2, Aarau 1856
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch