Die Alrune, so sprach der Rheinfeldener-Kapuziner zu einem armen Schneider, ist ein wunderliches Thier, das nachts mit Rollaugen umläuft. Wenn du dir aber meine Vorschriften merkst, so kannst du es leicht fangen und brauchst dann weder am Tage Hosen zu bletzen, noch abends erst Mist zu stehlen, um deinen kleinen Acker düngen zu können. Aber ihr selbst musst du hübsche Kleider machen und alle Tage frisch anlegen. Dies liess sich der Schneider nicht zweimal sagen, und lauerte gleich in der ersten Nacht bis zwölf Uhr auf dem Kreuzweg. Das Thier erschien. Zwar passte es nicht genau zur Beschreibung des Kapuziners und glich, wenn man die funkelnden Augen des unbegreiflichen Kopfes übersah, nur einem mittlern Haushund. Um so geschwinder gieng der Schneider auf das Glücksthier los, packte es in seine Hutte und warf es daheim in den Geissenstall; aber ehe er wieder zuschloss, legte er ihm den einzigen Sparthaler sorgfältig unter den Bauch. Er konnte den Morgen nicht recht erwarten, und war kaum wieder in den Stall getreten, als er statt des einen nun hundert neue Thaler auf der Streue fand, dem gestrigen ersten haargleich. Schnell raffte er die Thaler alle zusammen, kaufte den an sein Rübenfeld stossenden Acker des Nachbars um hundert und einen Thaler, und morgen, dachte er sich, wenn ich den Stall wieder aufgemacht habe, zahle ich ihm die daran grenzende Wiese dazu. Der Morgen kam, der Alraun lag geduldig auf der Streu, aber nicht ein einziger Thaler dabei, kein Rappen war zu sehen. Der Schneider hatte den erst gelegten Thaler zu behalten vergessen, nun war dieser ausgegeben und die Zauberkraft des Thieres mit versiegt. Was war zu thun? Er holte seine Hutte, trug das Thier in den Wald zurück und sprang heim, um sein neues Feld schnell wieder zu verkaufen. Allein nun schwanden nicht bloss die hundert Thaler, sondern der Schneider wurde noch viel ärmer, als zuvor, und seit man ihn bei der letzten Hungersnoth begraben, sieht man auch den Alraun stets bei seinem Todtenkreuze liegen.
E. L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 2, Aarau 1856
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch