Wer den heiligen Störchen und Rauchspiren Leides tut, der lebt nicht lang und kommt einst zuunterst in den Rollhafen. So wissen auch die Störche bei ihrer jährlichen Wiederkehr genau, ob derjenige noch am Leben ist, der ihnen in frühen Jahren Gutes oder Böses getan. Regelmässig mit Petri Stuhlfeier (22. Februar) erschienen die Störche sonst zu Veltheim und nisteten. Da geschah es, dass ihrer einer auf den benachbarten Schlosswiesen zu Wildenstein herumlief und drüben vom dortigen Lehensbauern geschossen wurde. Im Dorfe hatte man grossen Abscheu vor diesem Frevel und um so eher merkten sich die Leute Tag und Jahrgang dieser Begebenheit. Petri Stuhlfeier kam wieder, ein ganzer Sommer ging vorbei, so vergingen zehn Sommer; nie mehr hatten sich seitdem die wohlbekannten Störche hier wieder blicken lassen. Da starb im zehnten Winter jener neidische Schlossbauer, und mit nächstem Jahre waren auch die alten Dorfstörche wieder da. Und man sagt, dass von da an alle Abende die Kinder dorten auf den Kirchhof gegangen seien, um die Tiere noch zu Nacht beten zu hören. Reime im Aarauer-Tagblatt (1855 No. 50) lauten darüber:
All Johr am Petri Stuehlfiertag, zwor mängist nit grad uffe schlag,
do chunnt, er bliibt üs gwüss nit us, en Gast und suecht zum Stuehl es Hus.
er luegt de Winter a und seit, ebs Pfingsten ist, bist z’Bode gleit!
do butze d’Schwälmli d’Nestli us, d’Ambeissli flicke flink am Hus,
und d’Lerche juble, ‚s girt de Spier, vor luter Freud und Früheligs-Fier.
Blos d’Möntsche luege nidig dri, as gäb’s für sie kei Sunneschi,
es b’reicht ‚ne’s nüt noh irem Schnitt, sie singen eusem Herrgot nit.
drum glaubt der Storch, sie chnüble dra: wie jeder All’s chönn einzig ha.
Wenn das Storchenpaar sein frisches Nest bezogen hat und brütet, erscheinen oft noch ein bis zwei Paare fremder Störche, welche dasselbe Nest gleichfalls in Anspruch nehmen wollen. Dann sind die Neststörche genötigt, zu fasten, und müssen wie Belagerte eine Hungersnot aushalten, wenn sie nicht während des Ausflugs ihren Wohnsitz an den Feind verlieren wollen, der ihn tagelang scharf bewacht. Als in Basel ein gleicher Nesträuber den Storch auf dem dortigen Rathause bedrängte, stieg ein alter Ratsherr zuoberst auf die Zinne hinaus, und schoss den Eindringling mit einem Pistol zusammen. Er wollte, sagt man, damit nicht nur dem gekränkten Rechte Beistand leisten, sondern, wird hinzu gesetzt, auch den Mitbürgern beweisen, dass in dieser Stadt die Todesstrafe, die auf vorsätzlichem Mord steht, nicht so leicht abgeschafft werden solle. Man sah einst im Aargauer - Wynenthal, wie einer der Belagerer nach mehrtägigem Zuwarten sich in die Luft schwang und mit Macht auf den Neststorch herabstürzte. Dieser aber war bereits in Position, um gegen den Angreifer einen kunstgerechten Fechterstoss zu führen. Der Getroffene stürzte vom Dach, brach sich den Flügel und musste unten auf der Gasse bald verenden.
Ein andermal waren die Angreifer zu viert. Der Schauplatz war das Dorf Beltheim bei Schinznach. Schon tagelang hatte der ungleiche Kampf gedauert und die Neststörche waren nahe daran zu unterliegen. Die ganze Dorfschaft war in Aufregung. Da holte die Storchenpolizei noch rechtzeitig eine Flinte; ein Schuss, und dem Streite war ein Ende gemacht. In einer benachbarten Matte wurde nachher einer der Angreifer tot gefunden. Die Befreiten waren dankbar und das Flintenfeuer verscheuchte sie nicht. Ganz anders aber nahmen sie dasselbe im Frickthaler-Dorfe Eicken. Seit mehr als zwanzig Jahren schon hatten sie auf dem dortigen Turme genistet. Als aber vor etwa drei Jahren ein neuer Pfarrer seinen Einzug hielt und bei dieser Gelegenheit aus Flinten und Böllern stark geschossen wurde, warfen die Störche ihre Eier aus dem Neste und zogen fort. Man machte ihnen ein neues Nest, allein sie sind seither nicht wieder gekommen. Ein Schöftländer-Bauer wünschte zu erfahren, wohin der ihm benachbart bauende Storch regelmässig ziehe; er hing ihm also einen Zettel um, auf dem die Bitte stand, man möchte anderwärts gleichfalls darauf bemerken, in welchem Lande das Tier zu überwintern pflege. Als der Storch wieder erschien, war auf dem Zettel zu lesen:
Ei ei, du G’wundersma, in Ostindia
Uf eme Schuehmachershus!
Der Storch ist selbstherrlich und will durch niemand in seinem Hausregiment überwacht sein. Dies erfuhren die Brugger. Sie hatten sich längst gewünscht, von ihrem Kirchturme herab das Geklapper nistender Störche ebenfalls zu hören, gleichwie es ihrem Nachbarstädtchen Lenzburg zuteil wird. Sie beorderten deshalb den städtischen Baumeister, ein Rad auf den Kirchturm zu setzen; und siehe, das nächste Jahr baute wirklich ein Storchenpaar auf dem Rade. Allein es kam ein neuer Baumeister ans Ruder, und dieser, der es noch besser machen wollte, liess bei Renovierung des Kirchendaches auch das Rad darauf säubern und hübsch anstreichcn. Aber nächsten Sommer flogen die Störche eben so hübsch an Brugg vorbei.
Wenn die Frickthaler-Störche sich an Maria Geburt, 8. September, zum Fortziehen scharen, so haben sie ihren Sammelplatz auf dem Weiherfeld bei Rheinfelden, ebenso auf dem Haltingerfelde im Badischen, benachbart bei Basel. Hier sieht man sie den Zug anordnen, „Musterung halten", die Paare abzählen und dabei „welschen", d. h. so laut klappern, dass man sein eignes Wort nicht mehr versteht. Bleibt bei dieser Anordnung ein ungerader übrig, „der keinen Gespan findet", so ist ihnen dies ein Zeichen, dass er wegen ehlicher Untreue allein stehe. Dafür zieht ihn das Storchengericht zur Strafe und das Urteil wird auf der Stelle vollstreckt, indem ihn der Storchengeneral mit dem Schnabel ersticht. Vor Jahren wurde auch auf dem Sisslerfelde ein solches Gericht über ein Storchenpaar abgehalten, das sich nicht vertragen konnte, dabei wurde Männchen und Weibchen hingerichtet; man soll daselbst jetzt noch zuweilen solche durch Schnabelhiebe getötete Störche finden.
Als in Säckingen, gegenüber am badischen Rheinufer gelegen, vor einigen Jahren ein Bürger Namens Storch starb, sollen gegen vierundzwanzig Störche in das Städtchen geflogen sein; während der Mann zu Grabe getragen wurde, sassen sie auf dem Kirchturme und klapperten. Da der Storch sehr vieles weiss, was die Leute Unwahres ihm nachsagen, so begibt er sich selten auf ein solches Haus, in welchem ihm missgünstig Gesinnte wohnen; aber er stellt sich ihnen manchmal gerade vor dem Haus auf, und dann entsteht ein Sturmwind, der das ganze Strohdach abdecken kann. Da er zugleich der Kinderbringer ist, so rächt er sich an seinen Feinden auch dadurch, dass er ihnen ein ungestaltetes, oder gar ein schon gestorbenes Kind aus dem Teiche herausholt. Man erzählt, die Störche hätten in der Stadt Lenzburg sowohl, wie auch im Ruedertal und im Uerkentale ein eignes Stipendium besessen. Ein Mann im Dorfe Kölliken hatte eine so grosse Liebe zu diesen Thieren, dass er bei seinem Tode ihnen ein Legat testamentlich aussetzte, aus dessen Zinsen diejenigen, die im Frühlinge verfrüht ankamen und zum Froschfang noch kein offenes Gewässer finden konnten, mit Fleisch gefüttert wurden. Das Storchenstipendium im Dorfe Schöftland schreibt man einer Burgfrau von Rued zu. Diese hochbetagte Wittwe wohnte allein in ihrem Schlosse; Knecht und Magd schliefen entfernt von ihr im Oekonomiehause, das unten am Schlosshügel stand. Plötzlich brach einst Nachts Feuer bei ihr aus, und niemand sah‘s und weckte die alte Frau. Da kam der Schöftländerstorch vor ihr Fenster und pickte so lange, bis sie erwachte und noch rechtzeitig sich rettete. Da sie kinderlos war, setzte sie ihn zu ihrem Universalerben ein. Er soll täglich ein Pfund Leber oder Gelüng zum Leibgeding gehabt haben.
E. L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 2, Aarau 1856
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch