Der Weg vom Dorfe Koblenz am aargauischen Rheine nach dem Städtchen Klingnau ist wild und geht an vielen unheimlichen Stellen hin. Die Brücke daselbst am Steingraben, obschon erst vor zwölf Jahren neu aufgeführt, passiert man nicht gerne zu später Stunde; rechts und links ist Wald, in der Tiefe ein grosser Graben mit wenig durchsuchtem Dickicht, und weiter hinab beginnt das schon dem Namen nach schauerliche, unwegsame Giritzmoos.
Ein reicher Betrüger, der den Armen durch Gewalt und List ein Stück Land nach dem andern abgenommen, soll seit seinem Tode hier in verschiedenen Gestalten hausen. Man hört ihn auch verschiedenartig nennen; bald heisst er Härdli-Geist, und hat diejenigen Marksteine zurückzuschieben, mit denen er zu seinen Lebzeiten hier die Grenzen ungerecht erweiterte; bald wieder soll es der Heiri von Zürich sein, der den Bürgermeister von Zurzach im Walde erwürgte und deshalb hier hingerichtet worden ist. Von ihm erzählt No. 351. Auch eine ganze Schar gefallener Krieger, man weiss nicht deutlich, aus welchen Zeiten und Kriegslasten, soll von hier aus einen traurigen Nachtumzug beginnen. Gar Vielfaches giebt man an. Folgendes aber ist gewiss und hat sich erst in der Neuzeit begeben. Ein Maurer, Wengi von Klingnau, mit seinem Hausnamen Küng geheissen, war die Woche über in der badischen Stadt Waldshut auf Arbeit gewesen und gieng nun am Samstag zu den Seinen heim. Da er erst um Feierabend von Waldshut aufbrechen konnte, so wurde es fast Mitternacht, als er an jener Brücke vorbei kam. Er hatte sie schon im Rücken, da er ein leises Stöhnen zu hören meinte. Er blieb stehen, und da er es aufs Neue vernahm, kam ihm die Vermuthung, es möchte hier vielleicht ein Holzsammler, oder ein Wirthshausgänger in die Tiefe des verrufenen Graben gestürzt sein. Von Furcht wusste Wengi nichts, er hatte ein sehr mitleidiges Herz, und wie er sonst ein kühner und starker Mann war, so wagte er es hinunter zu steigen. Als er sich durch das Gebüsch hindurch gemacht hatte, rief er jener Stimme zu; aber niemand wollte ihm Antwort geben. Dies gefiel ihm doch nicht recht, und jetzt erst — er hatte doch das Jammern vorhin so deutlich mehrmals gehört — kamen ihm die Geschichten in den Sinn, die man sich über diesen Ort erzählt. Er stieg also wieder hinauf, um seiner Heimat zuzugehen. Nun aber hörte er hinter sich drein traben und schnauben, und alsbald stand ein Füllen in der Nähe, das anstatt scheu zu thun, ihm gerade nachzulaufen schien. Der Mann meinte einen guten Fang zu thun, zog also sein Sacktuch heraus, band es dem Füllen um den Hals und zog dies hinter sich drein. Nicht lange, so that ihm der Arm weh und war das Tuch zu kurz. Er kehrte sich um, es anders zu binden, aber unbegreiflicher Weise war in diesem Nu das Füllen hoch gewachsen, und er hatte die grösste Mühe, nur noch hinauf zu reichen, um schnell sein Sacktuch wieder abzubinden. Nun entlief er; aber eben so schnell sprang das immer grösser werdende Thier ihm nach und war schon bis zum Entsetzlichen aufgeschwollen, da er gerade jenes Kreuz bei Klingnau erreichte, an dem einige tausend Kaisersoldaten verscharrt liegen, welche bei dem im Jahre 1799 hier versuchten Aarübergang ertrunken und unter den französischen Kugeln gefallen sind. Hieher flüchtete sich der Mann, hier verschwand aber auch das Thier mit einemmal. Voll Angst und Schrecken betrat er endlich sein Haus und erzählte sein Begegniss.
Was half's, dass ihm die Einen glaubten, und Andere es ihm bestritten; krank war er heimgekommen und schon nach zwei Tagen starb er.
Man sagt auch, Wengi habe das eingefangene Füllen für dasjenige des Engelwirths von Klingnau gehalten und es bis in den Ort hinein geführt; sobald er aber seinen Fuss über die Stallschwelle gesetzt hatte, um es an den Barn zu binden, sah er, dass er ein Weib an seinem Halstuch führe; er liess das Tuch im Stiche und entsprang.
E. L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 2, Aarau 1856
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.