Nach uraltem Brauch gingen die fahrenden Schüler auf den Kreuzweg, wo sie der Teufel allerlei Künste lehrte. Es mussten aber ihrer immer zwölf sein. Zum Lohn wählte der Teufel sich dann immer einen von ihnen als Opfer aus. Jeder dachte, ihn werde es schon nicht treffen, und liess sich von des Teufels Künsten verlocken.
Zwei Freunde hatten davon gehört, und es zog sie mächtig hin zum Kreuzweg, doch zauderten sie, denn wenn der Teufel den einen von ihnen packen würde, wäre es auch gar zu schrecklich für sie beide gewesen. Doch wie es so geht, die Begierde war stärker als der Wille, und so standen sie auf einmal mitten unter den zwölfen am Kreuzweg. Es dauerte auch nicht lange, und der Böse wählte sein Opfer. Da fiel die Wahl auf einen der beiden Freunde.
Der andere wurde nun traurig und betrübt und war voller Sehnsucht nach seinem Kameraden, denn sie hatten sich sehr lieb gehabt.
Als der Teufel dies bemerkte, sprach er zu dem Betrübten, der niedergeschlagen des Weges daher schlich: „ Ich will dir ein Mittel geben gegen deine Sehnsucht: Auf einem Zaun wirst du hundert Raben sitzen sehen. Einer davon ist dein Freund. Findest du ihn heraus, so soll er wieder ein Mensch werden und frei sein, bezeichnest du aber den Falschen, so bist auch du verloren.“ Der Bursche dachte, ohne seinen Freund habe das Leben ohnehin keinen Wert für ihn, und wenn er fehle, so könnten sie doch als Raben weiterleben. Also nahm er den Vorschlag an. Als er nach Hause ging, sah er hundert Raben auf einem Zaune sitzen. Er musterte sie alle auf das Genauste, aber da war der eine wie der andere, jeder von gleicher Grösse, alle hässlich und rabenschwarz vom Schnabel bis zu den Füssen. Es schien ihm unmöglich, den Richtigen herauszufinden, und schon wollte er verzweifeln, als er bemerkte, wie einer der Raben plötzlich eine Träne ins Auge bekam. „Der ist es!“ rief er aus. In der Tat hatte er den Richtigen erkannt. Da hielt sein Freund seine menschliche Gestalt zurück. In der Zukunft aber mieden die beiden den Kreuzweg.
Märchen aus dem Wallis, Schweiz
Aus: Märchen von Schwanenfrauen und verzauberten Jünglingen, Hrsg. Sigrid Früh, Fischer Taschenbuch Verlag.
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