Der Lälle von Rheinfelden

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Zu jener Zeit, als die Schweden die Stadt Rheinfelden belagert hielten, bestachen sie drinnen einen reichen und gewaltthätigen Bürger mit einer grossen Summe, dass er ihnen die Festung in die Hände spiele. Dies war der Bürgermeister Gast, der da auf der Herrenmühle sass. Nachts elf Uhr öffnete er dem Feinde ein Thor beim Storchennestthurm, und liess einen um den andern leise herein, bis sich zuletzt bald eine Schwadron Schweden innerhalb der Mauern befand. Und weil er vorher die Strasse sorgfältig mit Spreuern bestreut hatte, so vernahmen die Einwohner den Huftritt der Rosse nicht und schliefen fort. Aber in jener Nacht wandelte die Mutter Gottes auf den Ringmauern und richtete alle Uhren von zwölf Uhr, da die Schweden nachrücken sollten, auf Morgens vier Uhr, da die Arbeiter aufstehen. Als mit diesem Glockenschlage die Gesellen der Knappenschmiede zur Werkstatt giengen, die beim Storchenthurm lag, wateten sie erstaunt durch lauter Spreu. Aber sogleich bemerkten sie auch den Haufen Feinde in Bickelhauben und Brustharnischen, der still am Thore stand.

Da griff ein Schmiedemeister zum grossen Hammer und rief seinen Burschen zu: I g'seh scho, ihre Hûbe sind nit recht gschmiedet, si händ d'Hämmer no tüchtig nöthig! Nun augenblicklicher Lärm; die Bürger sprangen allenthalben herzu, und wer von den Reitern nicht entrann, wurde erschlagen. Ein anderer Theil der Einwohner eilte auf den Sammelplatz zum Rheinthor hinab; mit Zorn sah man, dass hier die Fallbrücke niedergelassen war und zog sie schnell wieder auf. Als nun hier der Feind im Dunkeln ebenso anmarschierte und statt der verhofften Brücke einen Abgrund voll strömenden Wassers vor sich fand, riefen seine ersten Reihen den nachdrängenden Kameraden zu: „Z'ruck, z'ruck!“ Diese aber verstanden „Druck, druck!“ und drückten mit solcher Heftigkeit nach, dass sie ihre eignen Leute in den Strom stürzten. Erst als sie den Rhein voll Sturmhüte schwimmen sahen, merkten sie den Jrrthum und flohen.

Damit war die Gefahr abgewendet, nicht aber die Hungersnoth. Das Korn im Felde hatte man unreif schneiden müssen, um nur dem Feinde zuvor zu kommen, endlich soll gar sieben Jahre lang in der Gegend kein Pflug mehr gegangen sein. Als man die Spreu, welche den schwedischen Reitern gestreut gewesen war, von der Gasse in den Rhein warf, fischten die ebenfalls hungernden Schweden sie für Weizen auf und wurden nur um so lüsterner nach den grossen Vorräthen, welche sie in der Stadt vermutheten. Dies brachte die Bürger auf eine List. Sie hatten nur noch eine Kuh und ein Viertel Korn im Orte. Das Thier war schon so abgemagert, dass sich daran das noch übliche Sprichwort knüpfen soll: „Drî-Iuege wie d'Chueh im Schwedekrieg.“ Sie gaben ihr das Viertel Korn zu fressen, umwickelten ihr das eine Horn mit einer Flachsreiste und das andere mit einem Zettel, auf dem geschrieben stand:


So ring, as deisi Chue lehrt spinne,
Wird der Schwed Rhîfeldei g'wünne.

So jagte man die Kuh zum Thor hinaus. Als sie der Feind schlachtete, fand er verwundert die Menge Frucht in ihrem Magen; er meinte also diesen Ort nicht aushungern zu können und zog gegen das Nachbarstädtchen Laufenburg ab.

Allen Rheinfeldnern aber galt es als ausgemacht, dass der misslungene Handstreich gegen das Städtchen von einem der ihrigen herrühren müsse. Sobald nun der Feind fort war, versammelten sich Rath und Zünfte und hielten Umfrage, welche Strafe dm Verräther treffen müsse, wenn man ihn je entdecken würde. Bürgermeister Gast hatte hier zuerst seine Stimme abzugeben und suchte nun den Verdacht dadurch von sich abzuwenden, dass er sogleich das höchste Strafmass beantragte. Sein Urtheil über den Uebelthäter lautete:


Mä söttä z'Rieme verschnîde
Und in Oel versüde.

Man nahm ihn bei seinem eigenen Worte und zwang ihn, sein Verbrechen eidlich zu bekennen. Er sollte also in einem Kessel siedenden Oels getödtet werden. Es brauchte noch Zeit, bis man so viel Oel in der Nachbarschaft aufgebracht hatte; denn gar alle Dinge hatte die Kriegszeit weggezehrt. Endlich ward Gast in den Kessel geworfen und gesotten. Als von anderthalb Saum kein Tropfen mehr übrig war, sprang ein schwarzer Hund aus dem Kessel hervor und eilte davon.

Nun gieng eine neue Noth im Städtchen an. Der Böse trieb sich als Schimmel um, oder biss als Hund die Heerden auseinander, auf der Strasse wälzte er sich Jedem als Mehlsack zwischen die Beine, und nach Betzeitläuten erkletterte er die Ringmauer, schaute den Leuten zum obern Stockwerk ins Fenster und verhöhnte sie durch Herausrecken der Zunge (Lälle). Daher bekam er auch den Namen Lälle. Streckte einer nach dem Läuten der Thorglocke noch den Kopf neugierig zum Fenster hinaus, der brachte ihn gewiss nicht anders als wie ein Malter angeschwollen wieder zurück. Und immer pflegte der Geist bei solchem Unfug drohend zu rufen: Ich will's euch entgelten!

Ein Pater musste ihn endlich in eine Glasflasche bannen. Man verstopfte sie und brachte sie in den Grütgraben, einer Wüstung am Rheinufer, die eine halbe Stunde von der Stadt entfernt ist. Vorher aber musste man eine förmliche Übereinkunft mit dem Unhold abschliessen, und der gespenstische Hund unterschrieb sie mit der Pfote. Von seinem Kiesgraben, gegenüber Bicken, darf er sich der Stadt jährlich um einen Hahnenschritt nähern; alle dreissig Jahre aber wird ihm mit sämmtlichen Glocken der Stadt um dreissig Mannsschritte zurückgeläutet. Gleichwohl ist er jetzt schon bei der Dreifaltigkeitskapelle angelangt, andere sagen gar, schon am Rosengässli, nahe beim Wirthshaus zu den drei Königen. Ist er einmal wieder im Thore, so bringt ihn kein Kapuziner und kein Jesuite mehr hinaus.

Am Tage kann man ihn sehen, wie er im Graben liegt zusammengeschrumpft im Weingeistfläschchen. Ein unwissender Hirtenjunge öffnete es einmal, da brach eine ganze Heerde Schweine daraus hervor und jagte seine eigene in die Flucht. Nachts fliegt er als Strohgarbe und als lodernde Flamme von einem Grabenende zum andern; auf seiner Bahn lässt er Geld fallen, es ist aber nichts als Trug und Schein. Gar manche Bewohner des rechten Rheinufers lassen sich heute noch ihre Furcht vor dem Gast nicht nehmen; sie schläfern mit seinem Namen sogar ihre unruhigen Kinder ein, und will man diesen eine Ungebühr verweisen, so sagt man nur: „Du wüeste Gast!“ Wenn die Schiffer aus dem Schwarzwalde hier den Rhein herab fahren und sie hören um Neujahr und Weihnachten das Krachen der Eisberge von der Schweizerseite her, so sagen sie, der Gast brülle. Der Kessel, in dem man ihn gesotten, soll noch im Spritzenhause zu Rheinfelden liegen.
 

Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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