Der Geistmüller auf der Wittnauermühle

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Vom Thiersteinberge herab kommt ein kleines Bächlein durch die Matten von Oberfrick und Wittnau und geht unfern der Strasse, welche von Frick aus über den Benkenberg nach Aarau führt, in den Wölfliswiler-Bach. Ein Fusssteig aber durch die dortigen Matten heisst das Geistwegli. Ihn musste der Müller von Wölfliswil einschlagen, als er am Frickermarkte einen Ochsen über alle Erwartung gut verkauft, darauf in mehrern Wirthshäusern auch über Durst getrunken hatte, und nun etwas unsicher auf den Beinen, in ziemlich später Nacht heim wollte. Auf jener Matte fiel es ihm ein, dass man sich allerlei Spukgeschichten von dieser Stelle erzähle; in seiner Weinlaune schlug er daher mit seinem Stocke auf die Hecke am Wege, rief jeden Geist heraus, der da drinnen stecke und erbot sich, ihn zu erlösen.

Plötzlich kam eine Gestalt in grüner Kleidung hervor. Von dieser unerwarteten Erscheinung überrascht nahm der Müller Reissaus. Athemlos trat er in sein Haus; die Frau wollte wissen, was ihm widerfahren sei, aber er verhehlte es ihr und suchte seine Schlafkammer. Hier lag er kaum im Bette, so klopfte es schon an sein Fenster und draussen sprach eine Stimme: Komm, erlös mich! Er richtete sich empor und erkannte draussen dieselbe grün gekleidete Gestalt. So gieng es auch in der folgenden Nacht, der Klopfer am Fenster liess ihn nicht schlafen.

Er wendete sich endlich an seinen Ortspfarrer und erhielt den Rath, der Erscheinung das nächstemal zu folgen. Er that es im Vertrauen auf die kirchlichen Schutzmittel, die ihm dazu eingehändigt wurden, und gieng so in nächster Nacht dem Spuke nach bis zu jener Stelle des Geistwegleins am Thiersteiner-Waldbächlein. Hier blieb die Gestalt stehen und erzählte: Ich bin der Hundswärter gewesen der Grafen von Thierstein, als ihr Schloss noch da droben am Berge stand. Mein Herr hatte ein grosses Jagen in dieser Gegend angekündigt und zahlreich war der Besuch, der dazu auf dem Schlosse eintraf. Aber ich hatte gerade an diesem Tage den Hunden aus Versehen ihre Morgensuppe versalzen, und so wie man sie nun abliess, jagten sie zusammen diesem Bächlein zu. Statt das Wild aufzuspüren, blieben sie wasserlappend hier liegen. Ich wandte alles an, sie auf die Fährte zu bringen, ich gelobte in meiner Angst sogar eine Wallfahrt nach Maria Einsiedeln zu machen, alles half nichts. Da kam der Graf heran, sah, wer ihm das Vergnügen dieses Tages vereitelt hatte, und nicht weiter Herr über seinen Zorn, schoss er mich mit einem Pfeil nieder. Seitdem muss ich hier in Unruhe wandeln, bis mich Jemand dadurch erlöst, dass er die gelobete Wallfahrt für mich unternimmt.

Der Müller machte wirklich im nächsten Frühjahr die Wallfahrt nach Einsiedeln. Kaum war er wieder daheim, so stand auch jener Weidmann wieder an seiner Schlafkammer, klopfte ans Fenster und bat ihn, mitzukommen. Die Gestalt war diesmal wie zum Zeichen der beginnenden Sühne weissgekleidet gekommen und dies machte dem Müller ein Herz, auch diesmal ihm zu folgen. Der Weg gieng wieder jenem Bächlein in den Sulzmatten zu. An der gewohnten Stelle hielt der Jäger und sprach: Hier ruhen meine Gebeine, da hat der Graf mich verscharren lassen; bezeichne dir diese Stelle, damit du meiner Asche ein ehrliches Begräbniss geben kannst. Als dies der Müller zugesagt, wurden ihm noch drei Wünsche freigestellt, darunter auch der, ob er sogleich mit dem Erlösten nun im Himmel sein wolle. Dazu fühlte sich der Müller noch allzu jung und schlug es aus. Dankend verschwand hierauf der Erlöste.

Als nun am Morgen der Müller aufsteht und in die Wohnstube tritt, sehen die Seinigen mit Erstaunen, dass er über Nacht eisgrau geworden ist. Aber seit diesem Augenblick nimmt sein Wohlstand rasch zu, er wird endlich sehr reich, lebt glücklich und stirbt erst in hohem Alter. Weil aber sein Weib die ganze Geschichte ausplauderte, so bekam er seiner weissen Haare wegen allenthalben den Namen Geistmüller.

Die Leiche des Jägerburschen ist an dem Geistwege ausgegraben und auf dem Kirchhofe zu Wölfliswil bestattet worden. Gleichwohl kann man jetzt noch in jeder Stunde der Nacht auf dem Thiersteinberge und in den unterhalb gelegenen Sulzmatten Hundegebell und Hornstösse hören, als wäre dorten eine grosse Hetzjagd in Bewegung.

Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856, Seite 202

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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