Auf dem Nack, einer Hügelspitze beim Dorfe Kirchleerau, sind noch Spuren eines ehemaligen Schlosses zu sehen; geht man östlich über den Kamm dieses Hügels fort, so kommt man zum Hoden-Schüerli. Es ist dies die höchste, aber wohlbebaute Stelle dieser bergigen Waldgegend, und hier führt der Pfad aus dem Leerauer-Seitenthälchen hinüber in dasjenige der Rueder-Ache zum Schloss Rued.
Vor dreissig Jahren, so erzählt ein Leerauer, giengen ich und meine Schwester als Ährenleser den Weg über dieses Hoden-Schüerli. Wie wir den buschigen Hügel aufwärts zur freien Höhe kamen, sahen wir mitten auf ihr und hart am Wege eine schneeweisse Gestalt. Sie lehnte regungslos an einer Föhre, ein weiter faltiger Mantel hüllte sie fast ganz ein. Sie schien westwärts gegen den Nackberg gewendet. Eine Zeit lang schauten wir Zwei nach dieser Gestalt, wir sahen genau, dass ihr der Kopf fehle. Da fuhr der Schreck in uns, und in weitem Umweg eilten wir über die Höhe die andere Seite hinunter in den nächsten Bauernhof. Hier langten wir athemlos an, und zuerst erblickte uns die alte, uns wohlbekannte Grossmutter.
Sie fragt um unsere Angst, und wir berichten schnell und unzusammenhängend, was wir so eben gesehen. Jetzt sie schnell hinein in die Stube; es war gerade Mittags und der ganze Haufen ihrer Schnitter rings um den Esstisch. Den Löffel aus dem Maul, rief sie, nur gleich hinaus zum Binden! Die Schnitter lachten und hielten's für Spass; denn das Wetter war herrlich, darum schien ihnen eine solche Eile ganz überflüssig. Aber der Grossvater, dem die Frau indessen etwas ins Ohr geflüstert hat, steht nun auch von der Ofenbank auf und sagt zu den Arbeitern: Nun, habt ihr gehört, was die Mutter will? ihr könnt ein andermal um so länger sitzen! - Wenn der redete, so galt's. Und noch war es nicht vier Uhr geworden, als die Schnitter merkten, dass er recht gehabt; denn ein furchtbarer Sturm entwurzelte bald darnach die dicksten Bäume und hätte sicherlich alle Garben entführt, wenn man sie nicht schon rechtzeitig unter Dach gehabt hätte.
Vom Nack her hört man auch eine Kutsche über den Bergrücken hinfahren gegen das Hode-Schüerli und von da in gleicher Richtung weiter auf den entgegengesetzten Hügelkopf, welcher Burg heisst. Hier liegt ebenfalls altes Gemäuer und man deutet es auf eine zweite Burg, welche durch eine eigne Strasse einst mit jener auf dem Nack verbunden gewesen sein soll. Jetzt geht nur noch ein Fussweg durch das Gestrüppe, aber ein Windstoss wirft es zu beiden Seiten aus einander, wenn die Kutsche durchfährt. So geht sie über zwei Hochwälder hin, der eine ist der Rötler mit dem Enzegraben, der andere Bodematt geheissen. Hier auf der Burg gruben zwei Männer aus Moosleerau nach Gold. Sie meinten schon, auf den Schatz zu stossen, als sie durch eine Erscheinung verscheucht wurden, von der sie niemals weiter erzählen wollten. Der eine erkrankte darnach und starb bald, auch der andere verfiel in Siechthum.
Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch