Vor alter Zeit war im ganzen Hallwiler-Seethale keine Kirche und kein Kirchhof als auf dem ein paar Stunden entfernten Staufberge. Dorthin giengen die Leute von beiden Seeufern zur Predigt, dorthin brachten sie auch ihre Leichen. So geschah es auch, als der reiche Herr im Schlosse zu Lütwil starb und auf dem Staufberge beerdigt werden sollte. Bevor die Lütwiler Leute aber sich auf den Weg machten, tranken sie im Schlosse, von dem heute gar nichts mehr zu sehen ist, noch so viel, dass sie hernach im Zuge hin und her wankten und endlich den Sarg gar fallen liessen. Bis sie diese Ungebür ganz abgebüsst haben werden, müssen sie seither nächtlicher Weile von Zeit zu Zeit wiederholt mit der aufgebahrten Leiche zum Staufberg hinunter ziehen.
Dabei halten sie folgende Ordnung. Am dritten Tage Neumonds gewöhnlich brechen sie von Lütwil gegen das Dorf Dürrenäsch auf; dorten stellen sie das erste Mal ab und ruhen. Dann gehen sie quer über das Aescher Feld gegen das Retterswiler Dörfli, wo sie wieder ruhen und umwechseln. Auch weiter unten im Galgli, einem Dickicht an der Lenzburger Landstrasse, halten sie abermals still und füttern die Pferde mit ein wenig Hafer. Dann geht's gegen Seon, durch das obere Dorf hindurch und in das Chilchthal hinein. Von dieser Bergenge ziehen sie zum Heiliggraben hinüber und warten, weil sich ihnen hier eine zweite Schaar anschliesst. Nun geht's ohne weitern Halt hinauf zum Staufberg. Droben auf dem Kirchhofe nehmen alle die Hüte ab, bedecken das Gesicht mit einem schwarzen Tuche, und die Pfarrer knieen am Grabe und beten eine halbe Stunde. Dann verschwindet alles.
Unseres Vogts Grosse hat sie kürzlich einmal gesehen, da sie Nachts von Retterswil heimgieng nach Seon und im Galgli bei der Kiesgrube noch zurückschaute. Der Sarg war mit einem rothen Tuch bedeckt; vier grosse Männer, in rothen Strümpfen, schneeweissen Ueberröcken und Spitzhüten trugen ihn. Voran giengen zwei Pfarrer in rothen und weissen Hüten, jeder trug ein offenes Buch, in dem er beständig betete. Zu beiden Seiten der Bahre und hinterher folgte eine grosse Schaar zu Pferde. Die Gewänder der Herren schimmerten von Gold und Gestein, die Pferde trugen Kränze um den Hals.
Jedesmal wenn der Leichenzug dieses Weges kommt, stürmt und tost es bei uns aus dem Reffenthal und über den Schürberg-Pass her, und man kann sicher sein, dass es schlechtes Wetter geben wird. Wer nicht einen geschwollenen Kopf oder sonst ein Uebel bekommen will, geht dann gewiss nicht aus dem Hause. Wer aber den Zug anredet, wird todtkrank.
Ein altertümlicher und schätzbarer Zug liegt hier in der Angabe, dass das Leichengefolge Halt mache, um den Leichenrossen Hafer zu füttern. Wenn die Schleswiger Bauern bei Hesterberg, erzählt Müllenhoff, einen Acker mit Hafer besäen wollen, so nehmen sie einen gefüllten überzähligen Saatsack mit und lassen ihn über Nacht auf dem Felde stehen. Der ist dann für den „König Abel“, wie man dorten den localen Wuotan nennt.
Auf der Insel Möen lässt ihm der Bauer zur Aerntezeit ein Gebund Haber für sein Ross liegen. Myth. 896.
Vielerlei Aerntebräuche aus Nord- und Süddeutschland in den neuern Sagensammlungen, die ich hier nicht weiter auszuziehen brauche, bestimmen nebst den in Grimms Myth. hierüber schon enthaltenen Ueblichkeiten, wie man den Aerntegott mit Trank- und Speiseopfern auf dem neugeschnittenen Felde ehrte und noch ehrt. Das ihm geheiligte Ross hat bei diesen Anlässen zuweilen noch eine besondere Rolle zu spielen. Das dafür zu unserm Zwecke Dienende ist bereits zusammen gefasst in der Schrift Oberdeutsches Gebildbrod, No. 20 „Rößlibrod“.
Der reichliche Schmuck und Zierat, den unsere Ahnen den Tempelrossen in Mähne und Schweif flocht, wird von vorliegender Sage damit betont, daß die Rosse des Leichenconducts Kränze um den Hals und die Reiter Geschmeide in den Mänteln tragen. In Baaders bad. Sag. No. 227 tragen die Rosse der feurigen Kutsche Federbüsche „gleich Leichenrossen“; und jene bei Hessisch Haal haben das Haupt mit goldnen Federbüscheln verziert, gleich dem Gespann einer hohen Herrschaft. Wolf, Hess. Sag. No. 28.
Band 1, Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856, Seite 113
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.