Vom Dorfe Dürrenäsch führt der Weg über den Bergsattel hinüber nach dem Dorfe Lütwil zum Ufer des Hallwiler-Sees. Droben auf der Berghöhe findet sich seitwärts im Walde eine hübsche Waldwiese mit einem alten halbverfallenen Ziehbrunnen, welcher dem Platze den Namen Sod gegeben hat. Land und Brunnen gehört den Einwohnern von Lütwil und sie haben letztern jährlich zu reinigen. Allein sie betrachten ihn mit grossem Misstrauen, trinken niemals daraus und steigen, wenn sie ihn alljährlich von dem hinein gewehten Sand und Waldlaub wieder frisch reinigen müssen, niemals weiter als bis auf eine geringe Tiefe in ihn hinab. Der Brunnen würde ihnen und ihren umliegenden Gütern in jeder Weise nützlich werden können, man hat ihnen auch schon mehrfach Geld angeboten, um ihn wieder in Stand zu setzen, sie lassen sich jedoch nicht dazu bewegen. Sie sagen nämlich, dieser Quell sei sonst reichlich geflossen und habe Hunger und Durst zugleich gestillt; allein der Teufel habe Quecksilber drein gegossen und so sei das Wasser versiecht. Zum Hohne habe er dann seinen Rossstall an jenes besonders anmuthige Plätzchen auf dem Wege zwischen Kulm und Dürrenäsch hingebaut, wo er seine Rosse an den Schwänzen herauszieht und alle Vorübergehenden plagt. Auch steckt er in Gestalt einer grossen Kröte im Brunnen.
Der Barthli-Sepp ist seit fünfzig Jahren den Leuten noch im Gedächtnisse, wie er als ein ruchloser Nachtbube hier einst in die Tiefe des Brunnens hinunter gegraben und jene entsetzliche Kröte erblickt hat; auch an ein Büblein erinnert man sich noch, das beim jährlichen Räumen der Cisterne einmal zu nahe an den Rand getreten und hinunter gefallen war. Mittelst vieler Seile konnte man es wieder herauf ziehen; als man es abwusch und ihm die Steinchen aus den Schuhen klopfen wollte, waren alle Buchenblätter, die drinnen steckten, zu eben so vielen Goldstücken geworden.
An diesen Sodbrunnen knüpft sich nun eine Reihe von Erzählungen, die einen eigenen kleinen Sagenkreis bilden, welcher von dem Kulmerthale aus in das Hallwiler-Seethal, von diesem bis über den Staufberg und zur Stadt Lenzburg hin reicht. Sie knüpfen sich in diesen verschiedenen Thalschaften an einzelne Waldungen, Moose und Wassertobel überall frisch an, oder auch an die Ueberreste eingegangener Wohnungen, an Ruinen angeblicher Heidenbauten oder Raubschlösser, und so sind daraus fast eben so vielerlei neue Geschichten an jeder einzelnen Oertlichkeit besonders entstanden.
Der Sodbrunnen war der Mittelpunkt einer gewaltig grossen Römerstadt, welcher man mehrere Namen giebt. Die Lütwiler nennen sie das Gufenstädtli und sagen, sie habe vom Kulmerthal an und den Dörfern Kulm, Zetzwil und Dürrenäsch über den Berg hinüber bis zum Hallwiler-See gereicht und sei da über die Dörfer und Waldungen von Birrwil, Nieder-Hallwil und Seon bis zur Stadt Lenzburg gegangen, wo die gleichnamige Schlosshöhe Goffisberg noch jetzt auf diesen altrömischen Stadtnamen Gufenstädtli hindeute. In der Nähe jenes Brunnens aber stand das oberherrliche Schloss. Dieses war von einem abscheulichen Tyrannen, die Stadt von einem nicht minder entarteten Volke bewohnt, und so vertilgte endlich Gott dieses Sodom und liess es von der Erde verschlingen.
Die Leute vom Dorfe Dürrenäsch geben der versunkenen Stadt den Namen Lorenz und weisen den Lauf der alten Stadtmauern an mancherlei Bauresten nach, die an der Strasse gegen Hallwil hin hie und da aus dem Boden schauen. Südöstlich vom Dorfe liegen ein paar Bauerngüter, welche man noch Sodhöfe nennt, sie gelten als die Ueberbleibsel des Stadtschlosses.
Im obern Kulmerthale zwischen Reinach und Beinwil, nennt man dieselbe Römerstadt Hulm und erklärt sich mit ihrem Namen den des dortigen Hombergs, auf dem sie lag. Von dieser grossen Bergstadt zeigt man daselbst oben im Hochwalde an einer Stelle, da mehrere Feldwege sich kreuzen, noch den Grundstein, in welchem sich die Angeln des Stadtthores gedreht haben. Sie hat zugleich dem Kulmerthale den Namen gegeben. Als sie durch Feuer zerstört worden, blieb noch ihr Brunnen übrig, aber auch der wurde durch hinein gegossenes Quecksilber versenkt. Die Stelle, wo er sprang, füllt sich bei unfruchtbaren Jahrgängen noch jetzt mit Grundwasser an.
Anderwärts nennt man das Schloss wieder Jglisten und sagt, es sei westlich vom Dorfe auf dem Hügel gelegen und von Rittern bewohnt gewesen. Hier reitet zu Zeiten ein Weib auf einem weissen Rosse den Hügel hinan.
In alle diese Erzählungen mischt sich sodann die andere von der Wilden Jagd, und da jenes Schloss des Oberherrn beim grossen Brunnen stand, so geht auch diese W. Jagd herkömmlich vom Sodbrunnen aus. Sobald die Witterung ändert, vernehmen die Einwohner von Lütwil aus dieser Waldgegend her ein mächtiges Tosen und Brausen und sagen dann: „der junker Oberherr rot't se, d'meuti wird los glo, d'Wildjagd foht a.“
Kommt dies bei Tage, so vernimmt man bloss den Ton eines Jagdhornes, kommt's bei Nacht, so hört man auch Hundegebell dazu. Ist diese Jagd einmal aufgestanden, so hält sie getreu folgende Richtung ein. Sie zieht vom Sod nach der Egg, von da in das Wust an der Wannenfluh, und von da durch die einzelnen Striche des Lütwiler-Waldlandes, welche Föhren, Kabishaupt, Guggerai und Hinterm Ofen heissen. Von hier aus aber stehen ihr zweierlei Wege offen; entweder zieht sie nun querfeldein über weites Ackerland und durch das Dürrenäscher-Moos, und so kommt sie gerade auf die Bampfhöhen in den Liebegger- und Retterswiler-Wald. Oder sie nimmt den Lauf in einem Halbkreise durch lauter Waldungen des Kulmerthales, setzt in das Kulmer-Holz, kommt zu des Teufels Rossstall, setzt auf den Reinetberg über, von da über Dürrenäsch und Teufenthal nach dem Schlosse Trostburg und endigt dann auch hier auf der Bampf und im Retterswiler-Wald. Während dieses Zuges ist es für niemand rathsam, vor dem Hause zu stehen, wenn man nicht einen entsetzlich geschwollenen Kopf, Triefaugen und andere Uebel bekommen will. Nur der Scharfrichter könnte dann ein Heilmittel angeben.
Den Wilden Jäger, der diese grossen Waldstrecken durchfährt, nennt man Sodbaschi. Es haben nämlich einst zwei Jäger die Bampf bewohnt, die in ihrem Hasse gegenseitig sich trieben und bannten und endlich mit geweihten Kugeln auf einander schossen. Als der eine gefeuert hatte, fieng der andere die tödtliche Kugel mit dem Hut auf und schleuderte sie seinem Gegner an den Kopf. Diesen hört man nun, wenn der Mond neu wird oder die Witterung anders, auch um Fraufastenzeit, seinen Hunden droben rufen und mit ihnen beim Stieget, dem äussersten Theile von Teufenthal gegen Dürrenäsch hinziehen. Er heisst Sodbaschi, weil er der Sebastian vom Sodhofe gewesen ist. Nur der alte Liebegger-Köhler brauchte sich nicht vor ihm zu fürchten; so oft er seinen Meiler anzündete, kam der Sodbaschi herzu, wärmte sich dran und seine Hunde frassen dem Köhler das Brod aus der Tasche.
Allein die Wilde Jagd nimmt ihren Zug auch hinüber in das jenseits gelegene Seethal von Hallwil, und bleibt auch auf dieser Fahrt ebenfalls ihren schon einmal berührten Gegenden stets getreu. Die Waldtheile, die sie hier besucht, heissen Salvis, Tüfels Tanzplatz, ein runder unfruchtbarer Waldplatz voll Fils und Sauergras, Galgenhölzli. Hier erreicht sie die steilen Birrwiler-Waldungen und stürzt aus ihnen mit lautem Hundegebell herab ins Häfniloch, einem Bachtobel, in dem sie verschwindet. Die Leute, die dorten an der obern Bergstrasse einige vereinzelt liegende Häuser bewohnen, Häfni genannt, wissen die Ankunft der W. Jagd immer voraus; denn es lässt sich dann Tags zuvor unten am Seeufer bei Alliswil eine grosse Schlange blicken, die ein Goldkrönchen auf dem Kopfe hat. Alsdann braucht man nur die Heuschober oder Korngarben rechtzeitig noch unter Dach zu bringen. Jene Höfe leiten ihren Namen zwar nicht von der erwähnten Römerstadt, aber von einem Schlosse ab, das hier stand und vom Berge verschlungen worden ist. Es schaut noch Gestein davon aus dem Boden hervor und an jener Stelle fechten nun Nachts oft Ritter unter grossem Lärmen. An einer besonders tiefen Erdgrube sonnt sich da auch ein Schatz, den ein schwarzer Mann Mittags hütet und ein Fronfastenkind heben könnte.
Von hier weg schlägt die Wilde Jagd ihren Zug durch das Thal hinab nach Seon und Egliswil ein. Dorten kommt dann ein grosser Leichenzug zu Ross („Nächtlicher Leichenzugbei Seon“) mit auf den Staufberg gegangen, während zugleich die Geisterkutsche am Heidengraben und der Heidenkirche vorbei („Die Spinne auf der Heidenburg“) gegen die Stadt Lenzburg fährt („Die Fischbank bei Othmarsingen“).
Band 1, Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856, Seite 110
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.