Will man von Lupfig nach Wildegg hinüber, so kommt man auf dem kürzern Wege in der Mitte des dazwischen liegenden Waldes zu einem Steinbruch, bei dem in frühern Zeiten ein Holzbirnbaum stand, von welchem man jetzt noch mancherlei zu erzählen weiss. Wer da mit diesen Geschichten vertraut ist, oder alter Dinge noch mit einer natürlichen Ehrfurcht gedenkt, der wird heute noch einen Umweg einschlagen, wenn er in dieser Richtung nach Wildegg soll, während die Aufgeklärten freilich die kürzere Strecke nehmen, dafür aber auch manchmal tüchtig erschreckt ihr Haus erreichen. Ein Holzbirnbaum macht gewöhnlich die Hauptsache in den Erzählungen aus, die man hievon jetzt noch in den Spinnstuben hören kann.
Unter ihm verzehrte ein krummer Jäger gewöhnlich sein Mittag- oder Abendbrod. Frassen ihm seine hungrigen Hunde irgend ein geschossenes Häslein an, so hieng er sie an diesen Baum, bis man ihr Heulen in unser Dorf hinunter hörte. Und an dem nämlichen Baume fand man ihn auch zuletzt todt; er hatte sich hier mit einem Stricke selbst aufgeknüpft, und weil man solche Leute nicht in geweihter Erde begraben darf, so wurde die Leiche gerade an der Stelle verscharrt. Kein Vorübergehender aber vergass, einen Stein an den Platz zu werfen, damit der Unhold nicht gleich hervorkommen könne, wenn ihn etwa der Teufel wecken wollte.
Lange war der böse Mann vergessen, bis sich einmal ein Lupfiger auf dem Wege von Wildegg her dem Orte näherte und dort einen Hasen auf drei Beinen sah. Er betrachtete ihn als einen Angeschossenen und gedachte schon ihn mit sich heim zu nehmen. Da bemerkte er mit Grauen, wie derselbe immer mehr anschwoll, bis seine Augen zuletzt so gross wurden, wie Räder eines Pflugs. Je schneller der Mann entsprang, desto polternder folgte der gedunsene Hase ihm nach bis zum Hause. Noch athemlos erzählte er in der Stube, was ihm geschehen sei; nur das Bäschen wollte nichts glauben, und schob die so grosse Angst des Erzählers auf den starken Wildegger-Wein. „Da ist ja überall nichts von einem Hasen zu sehen,“ schrie sie zum Fenster hinaus; als sie aber den Kopf zurückziehen wollte, war ihr derselbe augenblicklich so angeschwollen, dass man ihr das Fenster am Leibe zerschlagen musste. Diese Begebenheit erweckte ein allgemeines Gemunkel unter den Leuten und obschon einige die Sache bezweifelten, so wurde doch dem krummen Jäger der Name dreibeiniger Hase von nun an allgemein beigelegt.
Nicht viel anders gieng es einem ältern Manne in seiner Neugier, ob es sich denn wirklich so verhalte. Guten Muthes hatte er sich jenem Baume genähert und traf einen langen Mann, der unbeweglich auf die Erde sah, als ob er hier etwas Verlornes suche. Mach weiter, wir wollen zusammen gehen, sprach der Unerschrockene. Aber vor seinen Augen war der Schwarze verschwunden und jetzt verirrte er selber sich auf dem ihm wohl bekannten Wege so ganz, dass er ganz gewiss nicht mehr heim gefunden hätte, wenn die über sein Ausbleiben beängstigten Söhne nicht noch in später Nacht aufgebrochen wären, ihn zu suchen. Drei Tage lang lag er mit gedunsenem Mund und geschwollenen Augen zu Bette, und konnte vor Heiserkeit keine Frage der Seinigen beantworten.
Durch dieses ward die Sorge des Dorfes von Neuem geweckt und man beschloss, damit es doch endlich Ruhe gebe, den Baum umzuhauen. Aber wie übel bekam es den Leuten, die von der Gemeinde dazu gedungen wurden. Während ringsum das Gebüsche unbewegt in der ruhigen Luft stand, schüttelte ein Brausen die Aeste dieses Baumes. Den Arbeitern sprang die grosse Waldsäge ab und wo man mit der Axt hintraf, war das Beil stumpf und ein blutrother Saft quoll nach.
Nur mit Hilfe der dazu berufenen Kapuziner von Baden gelang es, den Baum weg zu schaffen. Aber mit allem diesem war der Krumme noch nicht vertrieben und es gieng zum Theil noch ärger als vorher; denn nun wurden die Leute nicht nur bei Holderbank und im Lupfiger-Walde von ihm beunruhigt, er verliess jetzt öfter seine Steinhaufen beim Baumstrunk und kam vom Felseli und vom Steinbruch mit solchem Lärmen herab ins Dorf, dass man des Nachts nicht mehr schlafen konnte.
Im Spätherbste ist es gerade ein Jahr, da kam ein fremdes Weibsbild aus dem Lenzburger-Amt von Holderbank her über die Berge zu uns ins Dorf und setzte sich zitternd und athemlos auf die Fensterbank des ersten Hauses. Die Leute fragten sie, ob sie etwa gar der Hoperli habe nehmen wollen? Da erzählte sie von Haus zu Haus, was ihr oben begegnet sei. Als Spinnerin habe sie Arbeit gesucht droben auf dem Kernenberger-Hof, und kaum habe sie die Höhe erreicht gehabt, als ihr von der Lupfiger-Seite über den Berg her ein Mann entgegen stieg. Er habe weite Fluderhosen, ein langes rothes Wamms, einen grünen langschwänzigen Rock und auf dem Kopf einen Nebelspalter getragen. Eine Flinte habe sie nicht an ihm bemerkt, aber aus dem abscheulichen Gesichte seien die grossen Schaufelzähne so gelb hervorgestanden, dass sie vor Schreck starr, kaum von der Stelle zu kommen vermochte.
„Ich will weiter, es muss sein“, schrie sie, und mit einem Anlauf sprang sie über Stock und Stein, so schnell sie nur immer konnte, gegen Lupfig hin, während der krummbeinige Mann mittagwärts über den Berg wankte und höhnisch und fürchterlich hinter ihr her schrie: „Ho, hop! Hu, hu!"
Obschon jetzt die Rede geht, er sei neuerdings von den Kapuzinern in eine Flasche gebannt und unter einen Felsen geschoben worden, und wenn auch die jüngern Leute vom krummen Jäger überhaupt nichts mehr wissen wollen, so hört man ihn doch allemal hopen, das Jagdhorn blasen und hinter dem Dorfe hinab ziehen, so oft sich der Mond erneut, dann schlagen auch die Hunde in der ganzen Nachbarschaft an, als ob sie mit zur Jagd müssten.
Band 1, Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856, Seite 69
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.