Das Verenenbad, welches man das heilige heisst, ist ein so geräumiges Bassin mit Umwandung und Eindachung, dass gegen hundert geduldige Menschen mit einander darin Platz finden; es ist für die Armen bestimmt, die hier unentgeltlich die Wohlthat des Heilbades benutzen können und deshalb aus allen Kantonen der Schweiz regelmässig her geschickt werden. In langen Reihen sitzen sie dann in ihren Badhemden zusammen, die einen bis an den Hals, die andern bis zur Herzgrube ins Wasser getaucht. Steinbänke gehen ins Gevierte an den Wänden hin, aussen an den Gängen spazieren die Fremden und die Besucher, ein Badmeister hält Aufsicht über seine Patienten von so verschiedenartigen Sitten; ehemals war er sogar mit einer Ruthe versehen, die er an langer Stange gegen die Ungebürlichen im Wasser schwang.
Im Mittelpunkt des Beckens steigt eine Säule empor, auf welcher das holzgeschnitzte Bild der heil. Verena in einer Nische steht und auf die Hilfsbedürftigen niederblickt. Das heisse Wasser tritt unmittelbar aus dem Boden des Beckens selbst in das Bassin ein, und diese Oeffnung, aus welcher die Quelle hier hervorwallt, heisst Verenaloch. Aber nicht bloss die Armen nehmen ihre Zuflucht zu diesem einzelnen Sprudel unter den vielen gleichen in der Stadt zu Baden; auch junge Ehefrauen, die sich nach einem Erben sehnen, suchen heimlich sich hier Zutritt zu verschaffen. Wenn in nächtlichen Stunden die Badwäscher das verbrauchte Wasser abfliessen lassen, den Boden und die Steinsitze reingespült haben, da, wenn alle Neugierigen schlafen, kommt die junge Frau mit ihrem Dienstmädchen gegangen und drückt dem Badwäscher ein Geldstück in die Hand. Der versteht den Wink, und nachdem sie in ihre Badehre gekleidet ist, einem langen Hemde von feiner Wolle, so führt er sie hin zum Verenaloch, wo der heisse Sprudel aus dem Boden tritt. Sie senkt ein Bein in die Röhre hinab und lässt es recht durchwärmen; alsdann hofft sie sicher, diese Verrichtung helfe zur baldigen Erfüllung ihrer mütterlichen Wünsche. Die Gläubige lässt dann brennende Wachskerzen in dem steinernen Gehäuse vors Verenenbild aufstecken; und das Bild mit seinem stets frischen Blumenkranz im Haar, über das eine hohe Flitterkrone von Golddraht gestellt ist, sieht gar schimmernd und Gutes verheissend in das einsame Wasserbecken herunter.
Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch