Die Violas in Val Faller

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Vor vielen hundert Jahren trieben hinten in der Val Faller die Violas ihr Unwesen. Das waren eine Art Waldmuttern, die weder Gott kannten noch Menschenrecht achteten. Sie wohnten mitten im Forst in Höhlen und Gruben, die sie mit Steinen, Astwerk, Rinde und Rasenstücken ausbauten. Sie lebten hauptsächlich von Wild, hatten es aber auch auf Kinder abgesehen, die sie sich fingen und mit Wildbret mästeten, um sie dann zu verzehren.

Einst hätte wenig gefehlt, daß ihnen ein Hirtenbüblein aus Mühlen zum Opfer gefallen wäre. Schon in alten Zeiten nämlich hatten die Bauern dieses Dorfes das Recht, ihre Ziegen in Val Faller weiden zu lassen. Ohne an eine Viola zu denken, trieb der Geißbub seine Herde in den Wald gegen Val Bercla. Wie sie den Klang der Glöckchen hörten, stürzten die grimmigen Waldfrauen herzu, packten das arme Hirtlein, schleppten es in ihre Höhle und sperrten es in ein dunkles Gelaß. Am Abend vermißte man den Geißbuben, aber alles Suchen nach ihm war vergeblich. Er war in den Händen der Violas. Eine Alte mußte ihn bewachen, während die andern auf Kinderraub ausgingen. Sie hatte den Auftrag, ihn gut zu mästen. Denn er sollte erst auf den Tisch kommen, wenn er schön fett wäre. Der Alten half ein Mädchen, das einst auch gestohlen, aber für Zeiten der Not aufgespart und geschont worden war. Dieses warnte den Hirten im geheimen und erzählte ihm, welches Schicksal seiner warte.

Der Junge war aber nicht auf den Kopf gefallen. In seiner Tasche hatte er unter vielen andern Dingen, wie Knaden sie mit sich führen, einen Rechenzahn. Den steckte er allemal durch das Loch in der Tür, wenn ihm die Alte befahl, den Finger zu zeigen, damit sie fühlen konnte, ob er fetter geworden sei. Zum Glück für den Knaben war sie halbblind und merkte nicht, wie sie stets betrogen wurde. Sie verzweifelte fast, daß er trotz der guten Speisen nicht zunehmen wollte. Die andern Violas warteten und warteten auf den saftigen Braten, wurden endlich ungeduldig, und als sie eines Morgens wieder zur Menschenjagd losziehen wollten, befahlen sie der Alten, den Gefangenen zuzubereiten, ob fett oder nicht.

Gegen Mittag öffnete sich die Türe des Stalles. Das Weib stand davor, das Beil in der Hand, um den Buben sofort zu töten, wenn er herauskam. Der merkte aber die böse Absicht, entriß ihr rasch die Axt und schlug sie mit einem einzigen Hieb tot. Dann warf er sie in den großen Kessel, der für ihn bereitstand und unter dem schon das Feuer prasselte.Jetzt flüchtete er gegen Mühlen zu. Als er oberhalb des Dorfes ins Haupttal kam, traf er einen Mann, der eben großmächtige Heuschochen gemacht hatte. Diesem erzählte er mit fliegendem Atem, was geschehen war. Die Violas seien ihm sicher auf den Fersen, er solle ihn verbergen. Der Geißbub hatte recht geraten. Die Waldfrauen waren zu ihrer Höhle zurückgekehrt, hatten erraten, was geschehen war und sich sogleich auf die Verfolgung des Ausreißers gemacht. Der Mann steckte den Hirten schnell unter einen Heuhaufen, und kaum hatte er diesen wieder glattgestrichen, so kamen auch schon die Violas daher. „Habt Ihr nicht einen Buben vor beispringen sehen?" fragten sie den Bauern. Dieser wollte von nichts wissen. „Ihr müßt ihn gesehen haben, denn bis hierher führt die Spur," beharrten sie. „Er ist gewiß unter dem Heu versteckt. Erlaubt uns, darunter zu suchen!" „Macht, daß ihr fortkommt!" ereiferte sich der Mann. „Meint ihr, ich habe die Schochen (Haufen) gemacht, daß ihr sie mir auseinander reißt?" Doch sie ließen ihm keine Ruhe, bis er schließlich einwilligte: „Meinetwegen, so sucht! Aber diesen Haufen hier laß ich mir nicht anrühren, da hab ich mein Z'vieri drin." Die Waldmuttern durchstöberten das Heu vergebens, den Hirten fanden sie nicht. Denn den Haufen, unter dem er steckte, den hütete der Mann mit entschlossenem Eifer. So mußten also die Violas unverrichteter Dinge abziehen. Der Knabe war gerettet. Jetzt aber wußten die Leute im Tale, wo die verschwundenen Kinder alle hinkamen. Sie rückten in die Val Faller hinein und nahmen das unheimliche Nest der Menschenfresserinnen aus.

 

Aus: A. Büchli, Sagen aus Graubünden, 1.Teil, Aarau 1935, 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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