Von Tecknau aus, einem Weiler im obern Baselland, bis Aarau führt ein doppelter Fussweg über den Aargauer-Jura. Der kürzere geht eine enge und tiefe Schlucht bergauf, voll sonderbarer Felsenformen zu beiden Seiten. Sacht steigt aber der andere Weg zwischen grossen Buchenwäldern durch zusammenhängende Wiesengründe empor; dies ist das Eithal. Die Luft ist taufrisch und der Rasen bleibt grün das ganze Jahr hindurch; ein Bach mit kieselloser Welle kommt herabgeflossen, und hundertfacher Amselschlag schallt aus dem Laubdickicht. Hie und da liegen im Verstecke des Waldsaumes winzige Heuhäuschen, die einzige Spur, dass man den Menschen nicht allzuferne ist.
Doch so lange das Gras nicht ausreift, tönt hier keine Sense, keine Herdenglocke. Der Weih im Blauen, die Forelle im Bach, oder ein wackelnder Erdsalamander im Dampfe einer feuchten Lehmlage sind die einzigen Zeugen dieser reizenden Abgeschiedenheit. Die Wände des Gebirges rücken nun enger zusammen, der Wald wird steiler, einzelne Felsenzacken zielen aus ihm hervor frischgeschnitten, sonniggelb, da weht ein plötzliches Brausen um die Bergecke herum. Die Ergolz geht hier von einer querüber liegenden Felswand der obern Hochebene in unser ruhiges Tal nieder. In einem zierlichen Bogenstrahl springt der Bach mit einem Satze aus seiner Baumgruppe auf die Wiese herab und hat sich unten ein Becken so zirkelrund ausgewaschen, als ob es vom Steinmetzen zurecht gehauen wäre. Man nennt diesen Platz den Giessen. Was man in das Becken wirft, wird augenblicklich wieder ausgestossen.
Eine arme Frau suchte hier umsonst das Ende ihres Kummers. Kaum hatte sie sich mit dem Wasserstrahle hinabgestürzt, so fand sie sich drunten unverletzt ins weiche Gras hinausgehoben.
Solche Wunder schreibt man der Milde dreier Schwestern zu, die hier gewohnt haben. Auf beiden Talseitcn erheben sich nackte Wände, der alte Sturz und Schutt ihrer eingesunkenen Felsenhäupter gleicht den Trümmern vielfacher Burgen. Eine Gruppe nennt man die Ödenburg, die andere heisst beim Volke Scheideck. Der Schlossherr dieser letztern soll noch jetzt mit seinem Rappen heulend durch die Nacht reiten. Auch der Scheidecker Schlosshund hat noch vor kurzen Jahren regelmässig den Witterungswechsel durch sein Bellen angezeigt.
Auf die gegenüber liegende Ödenburg versetzt der Glaube drei schöne Schwestern, und man weiss noch, dass die Jüngste Gräfin Bertha geheissen habe, andere sagen Helena. Diese entführte der Scheidecker. Da man hierauf sein Schloss stürmte, rissen sich alle Felsen der Gegend los und begruben den Raubritter und die Stürmenden zugleich. Hierauf liess der Kaiser beide Burgen schleifen.
Noch immer baden jene drei Schwestern hier im Giessen; und die Mähder sind froh, davon zu hören, weil dann ihr Heu bis auf den letzten Wagen jedesmal sicher und ungenässt unter Schirm und Dach kommen wird. Kinder, die hier Schafe hüteten, sahen zwei glänzend gerüstete Reiter auf Schimmeln aus dem Walde herunter kommen, ihnen voraus ritt der Jägerknecht mit der Koppel Hunde. Unbefangen sprangen ihnen die Kinder entgegen und verlangten ein Almosen. Die Männer warfen eine Hand voll silberner Rappen (Heller) unter sie aus. Lange staunten die Kinder den schimmernden Reitern nach, dann suchten sie ihre Geldstücke im Grase; aber nicht eines war mehr aufzufinden.
Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch