Hexen und Zauberer verwandeln sich in Tiere; aber auch die Seele nimmt oftmals die Gestalt von Tieren an. Stets steht bei den Anschauungen, welche auf diese Tiere zurückgehen, der Mensch mit dem tierischen Wesen in bestimmter, enger Beziehung; das Tier, das in Erscheinung tritt, ist kein wirkliches Tier; es führt auf einen Menschen zurück.
Im Volksglauben treten aber geheimnisvolle Tiere auf; mit dem Menschen haben sie nichts zu tun. Man schreibt ihnen übernatürliche Kräfte zu. Ihr Auftreten jagt Furcht und Schrecken ein.
Vome Ching u re Schlange
En armi Frau, wo gäng isch go taune‚ het es Meiteli gha. Göb sie albe furt isch, het sie em Ching es Becki mit Brot u Milch uf d’Site to. Aber d’Muetter het’s düecht, ’s Meiteli mageri gäng wie stränger. Einisch het sie ungsinnet hei müesse; du het sie gseh, wo ’s Ching het afo ässe, wie ne Schlange ungerem Ofe isch vürecho. Die het us em Becki Milch gno u ‘s Meiteli het zue re gseit: „Nimm Boti o, nid ume Mämmi!“ Jetz isch schie zuehe u het ’s Ching gno, u d’Schlange het me drufabe töt. U dr Bur het mit em Ching u dr Muetter Erbarme gha u se beidi a Tisch gno.
Diese weitverbreitete Sage zeigt uns das Verhältnis zwischen Mensch und Schlange. Das leise Gleiten des unheimlichen Tieres über den Boden, sein Kommen und Verschwinden und vor allem der Biss der giftigen Arten machen die Schlange zu einem gefürchteten Wesen, das der Mensch scheut und in der Regel als Feind behandelt.
Aber die Sage zeigt uns noch mehr: die Schlange kommt vom Ofen her; leise klingt in der Erzählung die Vorstellung von den Ahnenseelen an, die sich in der Nähe des Herdes oder des Ofens aufhalten. Und wie die Maus, so erscheint ja auch die Schlange in vielen Sagen, wie in der Folgenden (D’Stummli u d’Schlange), als Seelentier. Die Schlange, die vom Ofen herkommt, ist darum keine wirkliche Schlange, sondern die Seele eines verstorbenen Familiengliedes.
M. Sooder, Sagen aus Rohrbach, Huttwil 1929
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.