Dr Strähl nid lo stoh
We men e Baum ummacht, darf me dr Strähl nid lo stoh. Süscht chunnt e Häx u macht e Chnopf dri.
Menschen, die auf einer niedrigen Stufe des Erkennens stehen, vermögen die Ursachen einer Krankheit nicht zu erkennen. Sie hegen den Glauben, Krankheit werde verursacht durch Einwirkung böser Geister, geheimnisvoller Mächte, durch Menschen, die Bosheitszauber ausüben. Aber gegen den Zauber hilft nur Gegenzauber, den nicht jeder kennt. Diese Anschauung, dass unheimliche Mächte Urheber schädlichen Zaubers seien, bedingt bei den Primitiven die Stellung des Medizinmannes, der Zauberer und Arzt zugleich ist und auf einer weitern Stufe der Entwicklung Priester und Arzt wird. Der Zauberer gebietet über Geister und unheimliche Mächte, bannt und beschwört die Krankheitsgeister und kennt wirksamen Gegenzauber.
Aber die gleichen Anschauungen, wie sie aus dem Denken der Primitiven herauswachsen, sind noch heute in unserem Volksglauben lebendig; wir dürfen sie nicht durchwegs als Rest vergangener Zeiten ansprechen; sie bilden sich stets neu, wo Menschen. auch wenn sie begabt sind, abseits der Kultur in einfachen und ursprünglichen Verhältnissen leben. Dem Medizinmann entsprechen die „Dökter“, wie sie in der Sage auftreten; zwischen ihnen besteht kein wesentlicher Unterschied. Darum begegneten wir in den vorausgehenden Sagen oftmals „Döktern,“ die wir aber nicht immer bei der Ausübung ihres eigentlichen Berufes beobachten konnten, sondern wir sahen auch, dass sie, wie der Medizinmann, zu Rate gezogen wurden in Angelegenheiten, die scheinbar ausserhalb des Berufes eines Arztes liegen. Und wie der Zauberer der Primitiven seine Seele ausschickt, um wundersame Dinge zu erfahren, so besitzt auch der Löchlidokter die Macht, seine Seele vom Leibe zu trennen und auf die Wanderung zu schicken.
Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass Zauber oder Gegenzauber keine Wirkung auslösen können. Die feste Überzeugung, krank oder behext zu sein, kann krank machen; so kann auch Bosheitszauber die Wirkung ausüben, die er beabsichtigt; aber auch der Gegenzauber, der vom Medizinmann oder Wunderdoktor ausgeht, kann heilen; denn die Macht der Einbildung, die auf Suggestion beruht, vermag wohl oftmals die Wirkung auszulösen, die der Zauber beabsichtigt und festigt dadurch den Glauben an den Zauberer.
Die Überlieferung berichtet viel von zauberkundigen „Dökter u Manne, wo meh hei chönne weder anger Lüt.“ In der Regel üben sie ihre Kunst zum Wohle der Menschen aus. Ihre Macht überragt das Können der Hexen, denen der Teufel Gewalt gab; sie fliesst aus reinern Quellen und nicht aus dem Bereich des Bösen. Einigen „Döktern“ zwar, wie dem Dr. Faust, gab der Teufel die Kunst des Zaubers; andere schöpfen aus alten Büchern, und die Erzähler vergessen nicht, ihre Frömmigkeit besonders hervorzuheben. Eine ganze Reihe von Geschichten berichtet die Sage vom Wasendoktor Ulrich Zürcher; sein eigentliches Wesen aber vermag sie nicht zu ergründen; sie schildert ihn als den mit Zaubermitteln arbeitenden, klugen Arzt.
M. Sooder, Sagen aus Rohrbach, Huttwil 1929
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.