Weit und breit der reichste Bauer im Entlebuch war vor vielen hundert Jahren der Krähenmoosbauer in Escholzmatt. Er war weder geizig noch habsüchtig und hatte ein mildes Herz gegen die Armen und Durchreisenden.
Zu jener Zeit zogen landauf und -ab mit schweren Kreuzen auf dem Rücken viele Männer und Frauen, die in tiefer Reue über ihre eigenen und fremde Sünden sich mit Ruten und Geiseln blutig peinigten. Man nannte sie die Geissler.
Ein solcher Geissler betrat, mit einem schweren Kreuze beladen, eines Abends das Haus im Krähenmoos und bat um ein Nachtlager. Einen so eifrigen Büsser unter ihrem Dache zu wissen und ihm wohlzutun, betrachteten die reichen Bauersleute als ein Glück und besonderes Zeichen der himmlischen Gunst.
Was Küche und Keller zu bieten vermochten, setzten sie ihm vor. Doch schlug der Fremdling zum Erstaunen der Hausbewohner die leckern Speisen aus und verlangte demütig die bescheidenste Kost und ein schlechtes Nachtlager.
Das Bett bereitete man ihm im obern Stock des Hauses. Da hinauf schleppte er auch sein schweres Kreuz.
Nach und nach wurde im Haus alles still und sank in tiefen Schlaf. Nur zwei Menschen wachten. Es wachte, obschon müde von des Tages Arbeit, der treue Hausknecht, der mit feinem Kennerblick dem Fremdling tief ins arge Herz geschaut hatte.
Gegen Mitternacht erhob er sich und schlich an die Schlafkammer des Pilgers heran, um ihn zu belauschen. Durch das Schlüsselloch schimmerte ein matter Lichtstrahl, hell genug, um dem spähenden Knecht eine schauerliche Szene zu verraten. Er sah, wie das Kreuz, das Zeichen der Erlösung, dem verruchten Menschen als Bergemittel seiner Diebs- und Mordinstrumente dienen musste. Eben war der Schurke daran, auf zauberische Weise die Hausbewohner in einen tiefen Schlaf zu senken. So viele Menschen im Hause lebten, so viele Fingerknochen von kleinen Kindern stellte er vor sich hin und zündete sie an. Alle brannten bis auf einen. Der Mörder erriet sogleich, wer noch wachen möchte; denn auch ihm war nicht entgangen, wie das Auge des Knechts ihm unfreundlich, voller Verdacht und Abneigung begegnet war.
«Dem werd' ich's eintreiben, den will ich zuerst niedermachen», sprach der Mörder und ergriff eine Waffe. Der Knecht draussen, der scharf beobachtete, hatte flinke Beine, und im Nu war er die Treppe hinunter. Er eilte hinüber ins Nachbarhaus und rief um Hilfe; denn er wusste, dass die in Schlaf gezauberten Hausbewohner einstweilen nicht zu wecken waren.
Unterwegs begegnete ihm ein winziges Männchen, das ihn an der Hand fasste. Dann ging's wunderbar rasch hinüber zu den Nachbaren, die ihm auf seine Hilferufe unverweilt folgten.
Dem Knecht war die grösste Eile nicht eilig genug. Er fürchtete, der Schreckliche möchte sein blutiges Handwerk bereits begonnen haben. An der Hand des seltsamen Kleinen flog er den andern gedankenschnell voran. Wenn er sie zur Eile aufmuntern wollte, mahnte ihn der Kleine immer wieder mit einem sonderbaren «Pst ! » davon ab.
So schnell gelangten sie an das Haus, dass der Mörder noch oben auf der Treppe stand, um unten in die Stuben zu dringen und zu töten. Wie er nun die Herbeieilenden unten an der Treppe erblickte, warf er, doch ohne Erfolg, seine Waffe gegen den Knecht. Darauf stürzten sich die Männer auf den Mörder los und töteten ihn.
Als man den Hausbewohnern mitteilen wollte, welch grossem Unheil sie entgangen, schliefen sie alle und waren nicht zu wecken. Endlich kam dem Knecht in den Sinn, die brennenden Fingerknochen zu löschen. Damit war der Zauber zu Ende, und alle wachten auf.
Emmentaler Sagen, Hermann Wahlen, 1962 Gute Schriften Bern
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.