Die Emme hat ihren jugendlichen Übermut, ihre geheimen Tücken längst abgelegt und windet sich in gebändigtem Lauf durch den breiten Talgrund dahin. Nur zur Seltenheit beweist sie zuweilen noch einmal ihre alte Kraft, und gischtend und brüllend frisst sie dann an Dämmen und Schwellen.
Einst war es anders. Wo heute blumige Wiesen und fette Äcker im Talgrund sich dehnen, hauste der wilde Fluss. Wahllos und ungebändigt wälzte das wilde Wasser brodelnd und tosend seine Geschiebemassen zwischen den Talterrassen. Die Bewohner des Tales mieden den Talgrund und überliessen ihn dem Bär und dem Wolf.
Die alten Anwohner der Emme, die die Tücken und Launen des Flusses vom Hörensagen und aus eigener Erfahrung kennen, misstrauen ihm bis auf den heutigen Tag. Sie hüten sich ängstlich davor, im Sternbild des Krebses, und ganz besonders im Monat August, Sand oder Kies aus dem Bett der Emme zu entfernen. Denn der Fluss rächt sich dafür und frisst ein tiefes Loch in die «Striichschwelli» und droht verheerend in das angrenzende Schachenland einzubrechen.
Auch oben im Tal, wo der Fluss zwischen steilen Bergwänden eingeklemmt ist, scheinen die wilden Flussgeister noch nicht ganz zu ruhen. Wenn im Frühling der warme Flühluft über die schneebeladenen Berge streicht und die Lawinen am Hohgant donnernd zu Tal sausen, wenn sich im hohen Sommer schwere Gewitter über der Gegend entladen, dann künden sie den Talleuten die Wassergrösse. Sie vernehmen dann einen eigenartigen Lärm den Fluss entlang. Dumpf dröhnen die Schläge, als ob von unsichtbarer Hand die lockeren Pfähle der Schwellen in dem Grunde festgehämmert würden.
Emmentaler Sagen, Hermann Wahlen, 1962 Gute Schriften Bern
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.