Wie die Erdmännlein, so ist auch das Hauri ein guter Geist. Seinen Wohnsitz hat es auf den schönsten Alpen. Sein Lieblingsaufenthalt aber ist die Steinbergalp am südöstlichen Abhang des Hohgant, da wo die Emme entspringt.
Es liebt die Bergbewohner und schützt sie vor den Gefahren des Gebirges. Wenn sich im Frühling die wilden Berggeister mit dem schmelzenden Schnee ins Hochgebirge zurückziehen, streift es mit sanften Fittichen über die Triften und Halden dahin und lockt die ersten Frühlingsblumen aus dem winterstarren Boden hervor. Es bereitet den Hirten eine fröhliche Ankunft auf den Alpen und saftiges Futter für ihre Herden.
Wenn die Glocken der Kühe über die Weiden läuten und die Treicheln der Ziegen bimmeln, dann hüpft es seinen Lieblingen entgegen und kitzelt zuweilen die Tiere, dass sie in mutwilligen Sprüngen, ohne Schaden zu nehmen, den Berg hinanhüpfen.
Dem Hirt erleichtert es die Last, unter deren Bürde er keucht und streut einen leichten Dunst über das Gebirge, dass ihn der ungewohnte Glanz der Sonnenstrahlen nicht blende.
Den Tieren geht es voran, zeigt ihnen die saftigsten Weideplätze und warnt sie vor schädlichen Kräutern. Es will aber seine Wohltaten im Stillen tun und wird böse, wenn man es lobt, oder selbst wenn man von ihm spricht. Wer solches missachtet, von dem zieht es seine Hand zurück, dessen Kühe fressen schlechte Kräuter, geben wenig Milch und magern ab, dessen Ziegen klettern an gefährliche Orte, wo sie weder vor- noch rückwärts können, und der Hirt muss Tag und Nacht in den Bergen herumstreifen, sie zu suchen auf halsbrecherischen Wegen. Darum spricht der Bergler nicht gern von dem Hauri. Er hat seinen Schutz nötig und möchte seine Gunst nicht verscherzen.
Im Winter zieht das Hauri seine schützende Hand nicht von den Menschen zurück. Es wacht über den verderblichen Anschlägen der Berggeister, die den Menschen bedrohen. Es warnt ihn, weil es nicht mächtig genug ist, ihn gegen die vereinten Angriffe der Kobolde zu schützen. Wenn die Unholde die Lawinen zusammenscharren, um sie auf die Wohnungen der Menschen hinabzuschleudern, hört man seine klagende Stimme in den Lüften, die den Bedrohten warnt. Zuweilen vernimmt man deutlich die Namen der Gefährdeten oft aber ist es nur ein warnender Laut, der von dem Ort der Gefahr her zu vernehmen ist. Zaudert der Gewarnte, sich zu retten, so warnte das Hauri zum zweitenmal. Bei der dritten Warnung aber scheinen Erde und Himmel vor Weh zu schreien, ein heulendes Gewimmer bricht aus allen Schlünden, aus allen Tälern des Gebirges hervor. Die Luft ächzt in ängstlicher Klage. Wie ein Gewitterschein huscht das Hauri über die von Gefahr umdrohte Stelle. Unmittelbar folgt ihm die Zerstörung. Ganze Berge von Schnee wälzen sich dumpf dröhnend von den Höhen herab, und hohnlachend stürzen sich, auf losgerissenen Felsblöcken reitend, die Berggeister auf die Stätte der Zerstörung nieder.
Emmentaler Sagen, Hermann Wahlen, 1962 Gute Schriften Bern
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.