Auf den Alpen und Bergen des Walliser Landes soll gar oft das Totenvolk umgehen, und dabei höre man deutlich die Totentrommel bald näher, bald ferner. Am unheimlichsten aber soll's um den gewaltigen Aletschgletscher sein, denn in jenem Gletscher habe einmal ein frommer Pater so viele Köpfe armer Seelen aus allen Gletscherspalten hervorschauen sehen, daß kein Span hätte dazwischenfallen können.
Einst kam einem einsamen Hirten auf der Törbjeralp, wo sich bei der Grimsel die Schneeberge des Wallis und des Kantons Bern scheiden, ein gutfärbiges Rind abhanden. Er suchte es lange vergeblich. Nach und nach geriet er in eine wilde Gegend, in der die zerrissenen Felsenkarren und zerklüfteten Gletscher ihm das Suchen sehr erschwerten. Dazu hing ein trüber Regenhimmel tief in die Berge herunter.
Auf einmal ward es ihm sonderbar. Er erblickte eine vornehme Frau, die langsam und mit edlem Anstande dem Gletscher zu wandelte. Sogleich eilte er vorwärts, der Dame seine Dienste anzubieten. Sie hatte sich ja wohl bei dem trüben Wetter von ihrer Reisegesellschaft verirrt. Wie er ganz nahe bei ihr war, sah er, daß die still Dahinwandelnde eine ganz junge und schöne Frau war, wie er noch nie eine gesehen hatte. Dabei sah er mit Staunen, daß sie barhäuptig und barfuß dem Eismeer zu lief. Ihre Haare, die vom Regen troffen, waren so schwarz, daß sie einen blauen Schimmer gaben. Ihren Hals zierte eine reich mit Edelsteinen verzierte Goldkette, und um ihren feinen Leib ging ein kostbarer Gürtel. An den Armen glänzten goldene Armbänder, und ihre kleine Hand leuchtete bei jeder Bewegung auf von lauter Diamanten. Mit einer Hand hielt sie sorglich die seidene Schürze, um besser gehen zu können, in der andern Hand hielt sie einen langen Reisestock. Der Rinderhirte sah wohl, wie sorgsam sie jeden spitzen Stein vermied, um ihre zarten kleinen Füße nicht daran zu verletzen. Das Gesicht war bleich und verweint, und schwere Seufzer kamen aus ihrem roten Munde.
Sprachlos vor Verwunderung schritt ihr der Älpler nach. Endlich fragte er sie, von Mitleid bewegt: "Um Gottes willen, meine schöne, gute Frau, was wollt Ihr denn bei so harter Witterung in dieser wilden Gegend? Ihr habt Euch wohl verirrt? Daß Gott erbarm! Wo sind Eure Bedienten? Habt Ihr keine Führer mitgenommen? Ihr seid doch nicht zu Fuß hierhergekommen? Ihr seid wohl nicht weit von hier vom Pferde gestiegen und habt Euch allein zu weit von der Begleitung entfernt und verirrt?"
"Nein, mein guter Junge", antwortete jetzt die Frau mit lieblicher Stimme, "ich habe mich nicht verirrt. Ich komme wirklich ohne Begleitung, ohne Diener und Pferde, ohne Hut und Schuhe hierher. Soeben komme ich aus einer großen Stadt und aus einem prächtigen Palaste. Mein Leib liegt zu Mailand noch warm auf dem Totenbette, an dem meine lieben Eltern, deren einzige Tochter ich bin, bitterlich weinen. Gott hat mich verurteilt, daß ich in diesem Gletscher abbüßen muß. Ich bin bei Lebzeiten ein gar verzärtelt Kind gewesen. Fast nie trat ich auf die bloße Erde, immer fuhr ich in der Kutsche. Nie kam ein Tropfen Regen auf mein Haupt, nie ein kaltes Lüftlein an meine Wange, nie ging ich ohne große Begleitschaft aus. Ich versagte mir keine Freude und fürchtete mich vor jeder Anstrengung. Deshalb muß ich jetzt in dieser Wildnis barfuß in Regen und Kälte wandeln und in diesem Gletscher meine Verzärtelung abbüßen."
Jetzt fuhr ein schwarzer, dichter Nebel daher, in dem die anmutige Gestalt unterging. Als ein paar Augenblicke danach der Nebel sich wieder verzog, war von der schönen Frau keine Spur mehr zu erblicken. Da fiel es ihm ein, Gott habe ihm gewiß die schöne Frau erscheinen lassen, damit er sie erlösen helfe, denn nicht umsonst sei sie so schön gewesen. Hätte er ihr doch seine Hilfe angeboten, statt bloß zu fragen! Und nun rief er, so laut er vermochte: "Schöne Frau, sagt mir doch, womit ich Euch erlösen kann!"
Aber nur ein schwaches Echo kam zurück. Schwermütig rauschte der Bach, und der Gletscher donnerte und krachte, bleiche Nebelgestalten stiegen in den Gletscherspalten auf und nieder, aber von der schönen Mailänderin sah er nichts mehr. Tieftraurig kehrte er heim. Noch oft danach stieg er in die wilde Gletschereinöde hinauf, und allemal rief er laut: "Schöne Frau, kann ich noch etwas tun, um Euch zu erlösen?" Doch immer kam nur seine Frage von den Felsenwänden zurück. Oft hasteten mit einem Male schwarze Nebel an ihm vorüber wie damals, als er die verwunschene Frau gesehen, und wild krachte und donnerte der Gletscher, und seltsame, unheimliche Nebelgebilde stiegen aus den Gletscherspalten herauf, aber die anmutige Frau sah er zu seinem Herzeleid niemals wieder.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.