Im Graubündnerland gab es vor Zeiten viele Wildleutchen, besonders zahlreich waren sie auch im Safiental. In diesem Tal war einst zu Safien, bei den sogenannten Häusern, eine Bündner Frau gerade daran, Käse zu bereiten. Eben hatte sie den Kessel mit der Milch über dem Feuer. Die Milch fing schon an, ein weißes, seidenweiches Schäumlein aufquirlen zu lassen, da flog auf einmal ein hübsches Lederkäpplein mitten in die Sennhütte hinein, als hätte es ein Windstoß hineingeweht. Verwundert machte sich die Frau vom Kessel weg und trat in die Türe. Da sah sie ein Wildmännlein vor sich auf einem moosbewachsenen Stein sitzen. Fragend blickte sie auf das wunderliche Männlein.
"Ei", sagte das, "ei, liebe Frau, gebt mir doch etwas zu trinken. Ich habe einen grausamen Durst und habe noch einen weiten Weg, und es kommt gleich ein grausames Gewitter."
Mit großen Augen schaute die Frau nach den sonnenbeglänzten Bergen und an den tiefblauen Himmel hinauf, an dem sich auch nicht ein Wölkchen zeigte. "Ach", antwortete sie jetzt, das Männlein mit lachenden Augen ansehend, "du bist wohl ein kleines Schalkenmännlein? Schau, die Sonne scheint ja so warm, heute kommt's gewiß nirgends zum Regnen. Aber zu trinken will ich dir schon geben."
"Ja, ja", sagte das Wildmännlein, "macht aber schnell, Frau! Seht, ich muß schauen, daß ich fortkomme." Jetzt lachte die Frau vor sich hin und dachte: Du bist mir ein rechter Wetterprophet! Prophezeist ein Unwetter, wo doch der ganze Himmel spiegellauter ist. Sie schöpfte bedachtsam ein Näpfchen voll Milch aus dem Kessel und trug sie dem Männlein vor die Türe zu.
"Ei", sagte das Männlein, "gute Frau, gebt mir doch ein größeres Gefäß, damit die Milch drin rascher abkühlen kann. Ich kann nicht so lange machen."
Die Frau tat ihm den Willen, holte eine Gepse und leerte das Näpflein Milch in das große, runde Holzgefäß. Das Wildmännlein griff rasch danach und begann mit vollen Backen die Milch zu blasen und sie unablässig herumzuschwenken, auf daß sie ja recht rasch abkühle und trinkbar werde. Aus vollem Halse mußte die Bündner Frau lachen, als sie das seltsame Gehaben und Getue des Männleins sah, und dann sagte sie, auf den kleinen Stock blickend, den er neben sich hatte: "Du hast da einen tüchtigen Stock. Mit dem kommst du ja schon hurtig vorwärts, wenn heute noch ein Gewitter drohen sollte. Aber das wirst du wohl nicht wissen, denn wenn's doch eins geben sollte, wär's mir leid, weil ich noch Heu draußen liegen habe."
Da sagte das Wildmännlein: "So sputet Euch, Frau, macht geschwind, sonst kommt Euch der Regen ins Heu. Und nun sage ich Euch schön Dank, wenn's damit abgetan ist."
Schnell schlürfte das Wildmännlein noch die letzten Milchtropfen aus der großen Gepse, dann griff es, aufspringend, nach seinem Stocke und wollte schon zu laufen anfangen. Aber die Frau rief: "Halt, halt, das Lederkäpplein!" und warf's ihm nach. Flink setzte es das Männlein auf, und dann machte es sich geschwind davon und immer geschwinder und geschwinder, bis es die Frau wie eine Gemse bergan jagen sah.
Lachend schaute sie ihm einen Augenblick nach, dann sah sie noch flüchtig an den heiteren Himmel hinauf und kehrte zum Käsekessel zurück, um zu käsen.
Kaum stand sie einige Minuten am Kessel, in das schneeweiße Wogen und Wellen der Milch blickend, so erhellte ein Wetterleuchten die dunkle Hütte, und gleich danach begann es zu donnern, und wie die Bündner Frau ungläubig in die Türe trat, sah sie eine brandschwarze Gewitterwolke über das Gletscherbachhorn hereinfahren, und keine Vaterunserlänge dauerte es, so brach ein Platzregen über Safien herein, als ob allen Donnerwolken am Himmel die Nähte geplatzt wären, also daß das liegende Heu vor der Hütte im Hui in den Boden hineingewettert war. Zu spät bereute es die Frau, daß sie dem wetterkundigen Männlein nicht geglaubt und das liegende dürre Heu nicht noch rasch eingebracht hatte.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.