Vor vielen, vielen Jahren waren einst drei Gesellen aus ihrem schönen Heimatstädtlein Rapperswil im Kanton St. Gallen am Zürichsee in die weite Welt hinausgezogen, um sich in ihrem Handwerk weiter auszubilden. Lange Zeit blieben sie in der Fremde.
Endlich übernahm alle drei das Heimweh. Sie konnten es im fremden Lande nicht länger mehr aushalten, denn Tag und Nacht träumten sie von der Schweiz und sehnten sich danach, heimzukommen in ihre Berge, an ihren blauen See. So taten sie sich eines Tages wieder zusammen und beschlossen heimzuziehen. Aber es ward eine gar weite Reise, die sie vorhatten. Als sie nun Tag und Nacht gelaufen waren, gelangten sie in den Böhmerwald, wo viele Räuber und sonstige sonderbare Menschen hausten. Und da sie todmüde waren und sich nur noch mit Not auf ihren wunden, brennenden Füßen zu schleppen vermochten, atmeten sie erleichtert auf, als sie im Wald ein Lichtlein schimmern sahen.
Sie hielten tapfer drauf zu. Und so langsam sie auch vorwärts kamen, vergrößerte sich das Lichtlein doch und ward nach und nach zum hell erleuchteten Fensterscheiblein, das ihnen freundlich zuzuwinken schien. Aber es dauerte noch lange, bis sie endlich ein kleines Häuschen zu erkennen vermochten. Nach langem erreichten sie das Häuschen. Es war eine kleine Wirtschaft. Also wurden sie getroster, denn obwohl sie nicht viel Barschaft hatten, besaßen sie doch genug, um sich in der Waldherberge eine rechte Unterkunft zu schaffen. Sie klopften höflich an, und als die Türe wie von selber aufging, erblickten sie eine kleine Wirtsstube. Darin saß am großen grünen Kachelofen ein altes, staudendürres Mütterchen und sah sie mit forschenden Augen an. "Guten Abend, Großmutter!" wünschten die Gesellen, traten ein und ließen sich, langaufatmend, am Tische nieder. Dann baten sie um Nachtherberge und um einen rechten Trost für den Magen. Das alte Mütterchen erhob sich, und die Gesellen mußten sich baß verwundern, wie schnell die Alte durch die Stube fuhr, als ginge sie auf Schlittschuhen. Sie verschwand in der Küche, aus der der Rauch hereinqualmte.
So legten sie denn ihre Säcke ab und begannen wieder nach der Heimat zu seufzen. "Ach", sagte einer, "ich wollte, ich wäre schon zu Hause! Es ist morgen dort Kirchweih, und da backen sie Küchlein und Kräpflein, die ich über alles in der Welt liebe." Der zweite seufzte gar sehr und sagte: "Oh, wie ist der Weg noch so weit! Es dauert noch Monate, bis ich zu Hause bei der Mutter sein kann, und sie ist alt, und ich weiß nicht, ob ich noch früh genug komme, sie noch einmal zu sehen." Der dritte der Gesellen aber stöhnte schwer. "Ach", machte er halblaut, "es dauert noch eine ganze Ewigkeit, bis wir zu Hause sind und ich mein Schätzlein ans Herz nehmen kann. Und Rapperswil hat gar viele Dächer, und es gibt dort viele hübsche Burschen. Oh, oh, wäre ich doch zu Hause!"
Das hörte die alte Wirtin, das staudendürre Mütterchen, das eben mit einem guten Abendbrot in die Stube rutschte. Sie stellte die Schüssel auf den Tisch, und dann sagte sie mit seltsamem Lächeln, wobei sie die letzten Zähne sehen ließ: "Da könnte wohl Rat werden, ihr lieben Gesellen, daß ihr bald zu Hause wäret."
Die Gesellen mußten über die Rede der Alten laut auflachen. Aber sie schien es ihnen nicht zu verübeln, da sie sich sonst gar manierlich und freundlich gegen sie benahmen. Sie fuhr wieder aus der Stube, und sie hörten wohl, wie sie in den Keller hinunterrumpelte. "Die wird uns wohl einen sauren Wein auftischen", sagte einer der Gesellen. Doch da stand die Alte schon wieder in der Stube und stellte einen großen Krug auf den Tisch. Gelüstig griffen sie danach. Da fanden sie im Krug einen gar süßduftenden, wohlbekömmlichen Wein. Sie tranken alle davon ein paar wackere Schlucke. Da wurde ihnen aber ganz wunderlich zumute. Ob sie wollten oder nicht, die Augen fielen ihnen zu, die Köpfe begannen auf den Tisch zu nicken, und bald schliefen sie ein.
Es mochte eine schöne Weile vergangen sein, da erwachte einer. Es fing eben zu tagen an, und irgendwo klang ein Glöcklein. "Ei", rief er verwundert, "wären wir nicht gar so viele Meilen von der Heimat entfernt, so wollte ich wetten, ich höre das Kapuzinerglöcklein unseres Heimatstädtchens Rapperswil zur Mette läuten." Jetzt erwachten auch die andern. "Der Tausend", sagte der zweite, "sind denn das nicht die Schneeberge, die auf uns herabschauen, und ist denn das nicht der Zürcher Obersee, der da so schön aus dem Morgennebel auftaucht?" - "Ja", rief der dritte, "liegt denn dort nicht die grüne Insel Ufenau?" Und auf einmal schrien sie wie aus einem Munde: "Und dort, dort über dem See das hochstehende Schloß und die alte Kirche, ist das nicht unser liebes Heimatstädtchen Rapperswil?" Sie fuhren auf, und nun sahen sie zu ihrer großen Freude und Glückseligkeit, daß sie bei dem Dörflein Hurden im freien Felde standen und daß von drüben das Rosenstädtlein Rapperswil mit freundlichen, sonnenbeglänzten Augen nach ihnen schaute. Da taten sie einen Luftsprung, dankten dem alten zauberkundigen Mütterchen im Böhmerwald im Herzen und liefen dann, was gibst was hast, als hätten sie ein Wettlaufen, über den langen Seesteg ihrem Heimatstädtlein zu.
An der Stelle aber, wo sie so unverhofft erwacht waren, ließen die Gesellen drei Kreuze aufstellen, die man heute noch sehen kann.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.