In der alten Zeit, als die Zwerge noch wie Ameisen in den Wäldern herumliefen, gab es auch noch gewaltige Riesen, die eine heillose Kraft hatten.
Einmal trafen sich im Luzerner Hinterland zwei gewaltige Riesen. Sie wünschten sich so laut einen guten Tag, daß die Flühe ein vierfaches Echo davon geben mußten. Und nun beschlossen sie, sie wollten zusammen wandern, bis sie einen dritten Riesen fänden. Als Wanderstäbe hatten sie mächtig große Eisenstangen. Lange zogen sie im Land herum, ohne daß sie den dritten Riesen zu entdecken vermochten. Bei diesem Hin- und Herwandern kamen sie auch einmal auf den Schrattenberg im Entlibuch [Entlebuch]. Da packte der eine einen hervorstehenden Block an der Felswand, riß ihn los und schleuderte ihn in die Tiefe. Jetzt fing in der Tiefe jemand zu schimpfen und zu fluchen an, und auf einmal kam ein mächtiger Kopf mit bürstendicken Haaren hinter der Felswand herauf. Das aber war ein Riese, den der abstürzende Felsblock auf die Stirn getroffen hatte, ohne ihm auch nur eine Schramme zu machen. Jetzt freuten sich die zwei andern Riesen, daß sie den dritten gefunden hatten, und so zogen sie miteinander fürbaß und machten sich die Zeit mit allerlei Späßen kurzweilig.
Einst wollten sie schauen, wer mit seinem Kopf eine dicke Felswand aus Nagelfluh zu durchbrechen vermöchte. Sie stellten sich also vor der Felswand auf. Dann nahm der erste einen mächtigen Anlauf und fuhr mit dem Kopf auf die Wand los wie ein wütender Ziegenbock. Also gewaltig war der Anprall, daß ein großes Stück von der Nagelfluhwand herabrollte. Aber der zweite lachte nur, und dann schoß er mit seinem mächtigen Schädel auf die Felswand zu, und zwar so gewaltig, daß es ein Loch in der Wand gab, worin er den halben Kopf verbergen konnte. Doch der dritte lachte erst recht und fuhr mit fürchterlichem Anlauf wie ein wildgewordener Stier auf die Felswand los, also daß er mit dem Kopf durch die Wand hindurchfuhr bis an die Schultern. So hatten sie glücklich ein Loch in die harte Nagelfluhwand gepufft und wollten nun in den Kanton Bern hinüberschauen. Aber der Riese, der das Loch in die Wand gestoßen hatte, konnte den Kopf nicht mehr zurückbringen, denn ein gewaltiger Stein war ihm aufs Genick gefallen, also daß er elend erstickte. Das betrübte die beiden andern Riesen sehr, und sie zogen wieder weiter. Aber bald nachher starb der eine, man weiß nicht warum, und so blieb nur noch ein Riese im Entlibuch übrig. Dieser aber ward deswegen so zornig, daß er schwur, den ersten Menschen, der ihm begegne, umzubringen.
Eines Tages hockte er an einem Grabenbord und schaute den Weg entlang. Da sah er einen kleinen Schneider daherkommen. Wütend stand er auf und faustete ihm gewaltig entgegen. "Du kommst mir gerade recht", rief er, "ich will dich wie einen Tannenzapfen an die Bäume hinaufhängen."
Dem Schneiderlein ward es übel zumute bei dem Anblick des gewaltigen Riesen, allein er ließ nichts merken und rief, so laut er vermochte: "Ja, komm nur her, ich fürchte dich nicht; ich bin so stark wie du!"
Als nun der Schneider bei dem Riesen stand, hob der einen zentnerschweren Stein wie ein Laubblatt vom Boden auf und verlangte gebieterisch, daß ihm der Schneider das nachmachen solle, wenn er doch so stark sei wie er.
"Oho", sagte der Schneider, "so einen zentnerschweren Stein aufzuheben, das ist mir viel zu wenig, ich kann noch viel mehr. Ich kann den härtesten Kieselstein zwischen meinen Fingern zerreiben."
Der Riese sperrte das Maul auf wie ein Ofenloch, als er das hörte und dabei den kleinen Kerl von einem Schneider ansah. Doch wunderte es ihn selber, ob so was möglich sei. Rasch las er einen großen Kieselstein auf und drückte ihn in der Faust. Aber wie er ihn auch drückte, der Kiesel blieb unerweichlich und ließ sich weder zerdrücken noch zerreiben. "Ei du Wicht, du lügst!" brüllte der Riese den Schneider an, "das kannst du auch nicht!" Aber das Schneiderlein bückte sich flink zur Erde und tat, als wollte es einen Kieselstein auflesen, griff aber behend in seinen Schnappsack, worin ein Ball weißer Zieger lag. Den nahm er flugs heraus, ohne daß der Riese es merkte, und dann erhob er sich wieder und zerdrückte und zerrieb vor dessen Augen den Ziegerballen also, daß das Wasser heraustroff. Da bekam der Riese vor dem Schneiderlein einen Heidenrespekt. Er hielt ihn jetzt für einen würdigen Reisegefährten und lud ihn ein, mit ihm in der Welt herumzuziehen.
So wanderten sie zusammen in die Welt hinaus. Zuletzt gelangten sie in eine große Stadt, wo der König einen Palast hatte. Allein in dem Palast war eine große Hoftrauer, denn gerade, als der Riese und der Schneider ankamen, sollte die schöne Tochter des alten Königs einem Drachen zur Beute werden. Bisher war es nicht gelungen, die Stadt von diesem Ungeheuer zu befreien, das seine Höhle in der Nähe der Stadt hatte. Und wenn sie dem Drachen nicht jeden Tag einen Menschen zum Auffressen auslieferten, erschien er selbst und wütete so, daß sie froh waren, ihm täglich wenigstens nur einen Menschen übergeben zu müssen. Wen aber das Los traf, den mußten sie ausliefern, selbst wenn es das vornehmste Kind war. So hatten sie's zusammen bei Eid und Ehre ausgemacht. Der König hatte bekanntmachen lassen, daß er demjenigen, der den Drachen töte, seine Tochter samt dem Reich überlassen werde.
Wie nun der Riese das hörte, sagte er zum Schneider: "Wie wär's, wenn wir zwei Starke den Drachen umbrächten?" Da dachte der Schneider: Du hast die Kraft und ich die List, wir könnten es wohl probieren. Laut aber sagte er: "Ei freilich, wir zwei wollen's schon wagen, wir sind Manns genug." So zogen sie zum alten König und ließen ihn wissen, daß sie den Drachen ermorden und die Stadt befreien wollten. Der König war froh, als er den Riesen sah, denn er dachte, dem möchte es am Ende doch gelingen, den Drachen zu bestehen. Wie er aber auch den Schneider erblickte, mußte er lachen und sagte: "Ja, hat dich denn die Katz' nicht gefressen?" Doch der Schneider machte sich nichts daraus, er dachte sich seinen Vers, und also wollten sie miteinander gegen das Ungeheuer ausrücken. Der Riese sollte einen mehrere Zentner schweren Hammer und der Schneider eine ebenso schwere Zange tragen, womit sie dem Drachen zu Leibe wollten.
Als aber das Schneiderlein die schwere Zange sah, sagte es zum Riesen, er solle nur vorausgehen und einstweilen Hammer und Zange tragen, es müßte sich noch die Schuhe einnesteln. So trampte der Riese mit Hammer und Zange auf dem Buckel voraus, und da er einen ausgiebigen Schritt hatte, war er bald aus der Stadt und schon weit auf dem Wege zur Drachenhöhle, als ihn der Schneider endlich einholte. Wie ihm aber der Riese die ungeheure Zange auflegen wollte, fing das Schneiderlein an, ihm von der Speise zu reden, die dem Riesen am liebsten war, von Reisbrei. Und wie der das hörte, spitzte er die langen Ohren und begann bald die Lippen abzulecken, und das Wasser lief ihm im Munde zusammen, denn der Schneider wußte ihm den Reisbrei gar süß zu machen. So dachte der Riese nicht mehr an Hammer und Zange und trug beides allein, bis sie zur Drachenhöhle gelangten.
Hier hielten sie nun Kriegsrat, wie sie das Ungetüm anfassen könnten. Nach langer Beratung kamen sie überein, der Riese müsse den Drachen mit dem Hammer aus dem Nest jagen, und der Schneider müsse sich vor die Höhle stellen und ihn flink mit der Zange packen, sobald er herausfahre.
Der Riese ging also mit dem Hammer in die Höhle hinein. Das Schneiderlein ließ die Zange sein und blieb mitten vor der Höhle stehen, denn es wollte zuschauen, wie der Riese dem Drachen zu Leibe gehe. Aber ehe nun der Schneider zur Seite springen konnte, schoß der Drache schon heraus, schnappte ihn wie eine Fliege weg und verschluckte ihn. Doch schon war auch der Riese hinter dem Drachen her und schlug dem Greuel mit dem Hammer den hörnernen Schädel ein, so daß er alsbald darniederlag und verendete, worauf der Riese den Schneider noch lebend aus dem Bauche des Ungeheuers herausschnitt.
Als aber der Schneider wieder im Lichte stand, sagte der Riese zu ihm, er hätte bald den ganzen Handel verdorben, und nur ihm allein habe es der König zu verdanken, daß die Stadt vom Drachen befreit sei: deshalb wolle er aber auch die schöne Königstochter und ihr Reich allein für sich haben. "Was", schrie das Schneiderlein den Riesen an, "du blähst dich so auf? Hättest du mich nur machen lassen. Wisse, ich bin mit Absicht in den Drachen hineingeschlüpft, denn ich wollte das Ungetüm von innen heraus umwenden, wie man einen Handschuh umwendet. Also wäre ich dann von dem lebendigen Drachen begleitet in der Königsstadt eingezogen." Der Riese, der das alles willig glaubte, ließ es daher zu, daß der Schneider sich mit ihm beim König als Drachentöter vorstellen durfte. Sie gingen mitsammen vor des Königs Palast, und der Riese legte den toten Drachen vor den Thron und verlangte nun, daß der König sein Versprechen halte und ihnen die Königstochter und sein Reich überlasse. Das wollte nun der König schon tun, aber er wußte nicht, welchem von beiden er die Tochter und das Reich geben sollte. Er ließ die Hofräte kommen.
Und als sie zwei Tage und drei Nächte lang darüber nachgedacht hatten, ließen sie feierlich erklären, daß sie auch keinen Rat wüßten. Da schüttelte der König den Kopf und ward unwillig. Da saß er nun schön in der Klemme, denn weder der Riese noch der Schneider wollten auf sein Reich und sein schönes Töchterlein verzichten. Aber als allen von dem vielen Nachdenken der Verstand stillstand, sagte auf einmal der Schneider: "Herr König, wißt Ihr was, der soll der Glückliche sein, der von uns am meisten Reisbrei essen kann!"
Das gefiel dem Riesen gar wohl, denn nun dachte er das geringe Schneiderlein, das wohl nicht viel zu fassen vermochte, mit Leichtigkeit zu besiegen, um so mehr, als ja der Reisbrei seine allerliebste Speise war. Er mochte es kaum erwarten, bis man auf des Königs Befehl eine Schüssel voll Reisbrei, so groß wie ein Berg, vor sie hin stellte.
Jetzt begann das Wettessen. Der Riese werkte mit seinem hölzernen Löffel drauflos, als müsse er einen Schneeberg abtragen. Aber wie staunte er, als das Schneiderlein ebenfalls tapfer dreinlangte und mit Essen nicht aufhören wollte, als er selber schon lange alle Knöpfe an der Weste hatte auftun müssen. Und endlich brachte er keinen Löffel, kein Körnchen mehr hinunter, während der Schneider immer noch munter fortaß, als hätte er erst eben angefangen. Da legte der Riese schwer schnaufend den Löffel weg, denn er meinte platzen zu müssen, und also erklärte er sich für besiegt.
Bald danach hielt der Schneider mit der schönen Königstochter Hochzeit und bekam als Morgengabe das ganze Reich dazu. Der Riese aber blieb in der Stadt und wollte durchaus wissen, wie das Schneiderlein es fertiggebracht habe, so viel mehr Reisbrei zu essen als er selber. Da der Schneider den Riesen doch fürchten mußte, wenn er ihm die Wahrheit sagte, und weil er ihn gerne für immer losgeworden wäre, gab er ihm an, er habe während des Essens den vollen Bauch aufgeschlitzt, und so hätte er essen können, solange es ihm beliebt habe. Das leuchtete dem dummen Riesen ein, und er beschloß, das Mittel auch bei sich anzuwenden, denn er hätte gerne acht Tage lang ohne Aufhören Reisbrei gegessen. Als er aber eines Tages Reisbrei aß und sich dabei den Bauch aufschnitt, fiel er tot vom Stuhl, wodurch der Schneider und sein Reich für immer von dem Riesen befreit wurden. Wie man nun den Riesen begrub, schaute der Schneider mit seiner Frau zum Fenster hinaus zu und sagte ihr leise ins Ohr: "Weißt du, warum ich so viel Reisbrei zu essen vermochte? Ich tat den Reisbrei immer in einen großen Sack hinein, den ich um den Hals gehängt hatte." Da lachten sie zusammen den dummen Riesen aus.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.