Einst lebte im Appenzellerländchen ein reicher Bauer, der einen starken und schönen, aber ungeratenen Sohn hatte. Vor allem machte es dem Bauer Sorge, dass der Sohn gegen seine Mutter so ungut tat, die ihm doch zeitlebens nur zu Gefallen gelebt hatte, denn sie verhätschelte und verpäppelte ihn auf jede Weise. Doch er dachte, wenn der Sohn älter wird, wird er wohl auch klüger und besser werden. Als nun der Bauer starb, hinterliess er seinem Sohne ein grosses Heimwesen, vor allem aber eine prächtige Alp hinter dem Messmerberge, die Grünalp.
Wie nun der Winter ging und der Frühling immer herzhafter an den Bergen emporstieg und allerwärts mit seinem rauschenden Föhnbesen und seinem Sonnenbrennglas den Schnee wegschmolz, rüstete sich der junge Senn zur Alpfahrt. Er legte seiner Leitkuh die grosse Senntenschelle, die Treichle, an, schmückte sie mit den ersten Blumen, und dann nahm er Abschied. Seine Mutter sah er dabei kaum an, obwohl sie ihm mit heissen Segenswünschen ans Herz sank. Er hatte aber eine schöne Liebste. Die schmückte seinen Hut mit einem Maienkranz, und das freute ihn also, dass er vor diesem Kranz schier auf die Knie fiel. Danach ging's mit Jauchzen und Singen bergan zur Alp, und weit und breit blieben die Leute stehen und sahen bewundernd dem schönen Sennten nach, mit dem der Bursche auffuhr.
Als er nun seine gutfärbigen, braunlachten Loben (Kühe) mit Kling und Klang auf der Grünalp weiden liess, begann ein grosses Wohlleben, denn die Alp floss von Milch und Honig. Von allem aber schickte er das Beste seiner Braut zu, die Mutter jedoch liess er darben. Wenn sie was braucht, so weiss sie ja, wo ich bin, kann's selber holen, dachte er.
Eines Tages besuchte ihn seine Geliebte. Da war er vor Freude wie verhext! Er tanzte mit ihr auf dem reichbeblümten Rasen vor der Hütte und stellte ihr alles auf, was eine Alp Schleckhaftes hervorzubringen vermag. Milch, Butter, geschwungene Nidel (Schlagrahm), Käse, alles ward in Hülle und Fülle aufgetragen. Ja, er trieb es so weit, dass er den schmutzigen Platz vor der Hütte mit grossen, fetten Käsen über und über belegte, damit sein Liebchen den Fuss nicht besudle. Als sie zusammen eben ein seidenweiches, schmackhaftes Fenz auslöffelten, hörten sie auf einmal ein Seufzen und Ächzen. Und da erblickten sie eine alte Frau, die mühsam das Felsenweglein herauf zur Alp stieg. Auf dem Rücken trug sie eine Milchtanse. Mit Unbehagen und Verdruss erkannte der Senn seine Mutter. Schweissbedeckt, todmüde keuchte sie heran und sank auf einen Stein, bei Gottes Barmherzigkeit um etwas Speise flehend. Aber das böse Paar war erbost, dass die alte Frau sie gerade mitten in ihrer Festerei störte. Der junge Senn erhob sich widerwillig und gab ihr etwas ausgekäsete, überlang gestandene Milch, die grüner aussah als eine Heuschrecke, zu trinken. Sonst verabreichte er solchen Trank nur den Schweinen. Doch die Mutter nahm es dankend an.
Wie sie aber wieder gehen wollte, bat sie ihren Sohn, er möchte ihr doch etwas Schotte und weissen Zieger in die mitgebrachte Tanse tun. Was tat nun der Unchrist von einem Sohn? Er brachte ihr Mist und Käsewasser in die Tanse und tat den Deckel wieder darüber, als wäre alles in bester Ordnung. Von Herzen dankte sie ihrem Sohne und wankte nun wieder den weiten Weg heimzu. Als sie zu Hause war, öffnete sie die Tanse, und o Wunder! statt des Mistes und der eklen Käsebrühe fand sie darin den reinsten Rahm und vollfetten Käse. Der liebe Gott hatte sich ihrer erbarmt und das Böse in Gutes verwandelt.
Noch mehrmals tat aber der Sohn der Mutter die gleiche Schmach an, wenn sie ihn besuchte. Deshalb ergrimmte Gott über sein undankbares Herz.
Wie nun der Herbst kam und allerwärts die Jodler der abziehenden Sennen von den Flühen hallten, rüstete sich auch der junge Senn auf der Grünalp zur Talfahrt, denn das saftige Alpengras, aus dem den ganzen Sommer über so schön die Alpenrosen, die rotäugigen Steinbrech und die grosssternigen Arnikablumen geleuchtet hatten, waren verschwunden. Nur noch wie ein feines, grünes Schäumlein zitterte das Herbstgras über die Weiden.
Auch die schöne Braut des Sennen hatte sich zur Alpfahrt eingefunden. Sie half ihrem Liebsten die Hörner der Kühe schmücken und hing selber der glatten, mausgrauen Leitkuh die grosse Senntentreichle um den Hals. Und wie sie nun zum letzten Mal ein auserlesenes Sennenmahl zusammen abgehalten hatten, erhob sich der Älpler und jauchzte hellauf seinen Loben. Da wurde es auf einmal unheimlich schwefelgelb ob den scharfen Graten der Berge. Erschrocken schaute das Pärchen zum Himmel hinauf. Schon stiegen brandschwarze Wolken wie grause Ungeheuer hinter den Bergkämmen empor, und auf einmal zitterte und bebte die Alp. Es donnerte und krachte in allen Flühen herum, und ein fürchterlicher Wirbelwind brauste heran, hetzte das Vieh in die Schluchten und trieb den geängstigten Senn und seine Liebste in die Hütte. Aber kaum waren sie darin, begann ein wildes Schneegestöber, und daraus ward ein wütender Schneesturm, der nicht mehr aufhörte, bis Hütte und Alp tief unter Eis und Schnee begraben lagen.
Von da ab grünte die schöne Alp nie mehr. Ewig blieb sie unter dem körnigen, glitzernden Firnschnee begraben. Wenn aber ein Gemsjäger sich samstags in dieses einsame Hochtal verläuft, so kann er deutlich hören, wie tief unter dem Schnee noch das verwunschene Sennenpaar und sein Vieh und sein Hund geistern. Denn dann lässt die Schellenkuh einen "Blaas" (Plärren), der Stier ein "Breul" (Brüllen), der Senn einen "Zaur" (Sang), die Liebste einen "Blängg" (Schrei), der Hund einen "Bell" und die Senntenschelle einen "Glang" (Klang) ertönen.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch