Vor vielen hundert Jahren hausten die Freiherren von Brandis auf ihrem stolzen Schloss zu Lützelflüh. Einer dieser Zwingherren, der wildeste von allen, behandelte seine Untertanen ärger als das Vieh. Immer neue Frondienste bürdete er ihnen auf, und er scheute sich nicht, sie mit eigener Hand und scharfer Peitsche zu schlagen. Wer sich ihm zu widersetzen wagte, der verschmachtete im Burgverlies.
Eines Tages, es war im Frühling, strich der Flühluft warm über die Berge und schmolz den Schnee auf dem Hohgant und der Schratten. Bekümmert sah es der Müller von Lützelflüh, der infolge der vielen Fronarbeiten die Schwellen an der Emme noch nicht hatte ausbessern können. Kam das Wasser schon heute, so war es um die Mühle geschehen. Darum eilte er hinauf in das Schloss, um den Herrn zu mahnen, dass unverzüglich geschwellt werden sollte. Der Brandiser machte sich eben zur Bärenjagd bereit. Alles Jammern half nichts, der Müller musste als Treiber mit auf die Jagd.
Unten im Emmengrund wurden zwei Bären aufgejagt. Diese stürzten sich auf den Freiherren los, der ihnen zu Fuss allein gegenüberstand. Aus dieser harten Bedrängnis rettete ihn der baumstarke Müller. Der Freiherr aber hatte für ihn kein Wort des Dankes oder der Anerkennung. Er hiess ihn mit den andern Bauern die erlegten Bären auf Schlitten in die Burg hinaufschleppen.
Da sieht der Müller unten im Tal, wie die Emme, vom warmen Föhn und Regen angeschwollen, wütend ins Land gebrochen ist. Die Mühle ist verschwunden. Voll Entsetzen lässt er den Schlitten fahren und eilt hinab, wo sie gestanden. An der Halde findet er die Frau und die Kinder, doch das jüngste fehlt. In der Verzweiflung will ihm die Mutter nach in die wilden Fluten. Die Nachbarn vermögen sie kaum zurückzuhalten. Machtlos steht der starke Mann diesem Elend gegenüber. Da sprengt der Freiherr auf seinem fuchsroten Hengst heran, fluchend, dass der Müller sich erfrecht, vom Schlitten wegzulaufen. Im Schmerz der Verzweiflung erhebt der Müller die geballte Faust gegen den Tyrannen und nennt ihn Kindsmörder und des Teufels leibhaftigen Sohn.
Da schmettert der Freiherr seine Streitaxt auf den wehrlosen Mann, und mit zertrümmertem Schädel stürzt er in die schäumende Flut. Beim Anblick dieser grauenvollen Tat reisst sich die Müllerin aus den Armen der Leute und hoch die Hände zum Himmel erhoben, tut sie einen furchtbaren Fluch: «Keine Ruhe sollst du finden im Grabe! Bei drohender Wassernot sollst du schwellen müssen die Emme auf und ab, immer und ewig! » Sie schrie's und stürzte sich darauf ihrem Kind und ihrem Manne nach in den tosenden Fluss. Entsetzt verzog sich die Menge zu ihren Wohnungen, und der Freiherr ritt kalt und trotzig seiner Burg zu.
Des Weibes Fluch zehrte unablässig an des Freiherrn Lebenskraft. Und ehe ein Jahr um war und der Flühluft wieder über die Berge strich, senkte man den trotzigen Herrn zu Lützelflüh in die Gruft seiner Väter. Das Weibes Fluch aber ging grässlich in Erfüllung. Der Tyrann fand keine Ruhe im Grabe.
Jedesmal, wenn der laue Frühlingshauch über die Berge weht, und die Emme mächtig anschwillt, da stöhnt und regt der Ritter sich in seiner Gruft. Hinaus muss er, die Streitaxt in seiner knöchernen Hand. In seiner eisernen Rüstung schreitet er die Emme auf und ab. Seine roten Augenbrauen flattern im Nachtwind. Wo er lockere Pfähle sieht, hämmert er sie mit seiner schweren Streitaxt in den Grund, dass es schauerlich durch die Nacht gellt. An der Stelle, wo er den Müller erschlagen, muss er stehen und warten, bis von der Mühle herauf der, Hahn kräht. Dann darf er wieder zurück in seine freiherrliche Gruft.
Emmentaler Sagen, Hermann Wahlen, 1962 Gute Schriften Bern
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.