Ein Schafhirt, der seine Schafe schon manches Jahr an der Schrattenfluh gesömmert hatte, trieb einst, als der Herbst ins Land zog, seine Herde zu Tal. Unterwegs bemerkte er, dass ihm ein Schaf fehlte. Wie er es auch suchte, er konnte es nirgends finden.
Der Winter verstrich, und als er im Sommer seine Herde wieder zu Berg trieb, hüpfte ihm zu seiner grossen Verwunderung das verlorene Schaf wohlgenährt entgegen.
Es zeigte aber keine Lust, mit der übrigen Herde zu weiden. Das Futter war ihm nicht mehr gut genug, und der Hirt merkte bald, dass es etwas Besseres kenne. «Wart», dachte er, «ich komme dir schon auf die Spur». Von da an liess er den Sonderling nicht mehr aus den Augen und schlich ihm auf seinen geheimen Pfaden nach.
Eines Tages bemerkte er, wie es sich einer Felshöhle näherte. Er folgte ihm und schritt durch einen geräumigen Gang zu einem grossen unterirdischen Gewölbe. Rings an den Wänden funkelte es von hellen Kristallen, und an langen Futtertrögen standen prächtige Streitrosse. Hier fand das Schaf köstlicheres Futter als auf der magern Bergweide. Als der Hirt die unterirdischen Räume durchwanderte, kam er vor ein mächtiges Tor. Bei der leisesten Berührung öffnete es sich, und er schaute in einen Saal, der von Gold und Edelsteinen schimmerte. An herrlichen Tischen sassen, die Häupter auf die Arme gestützt, unzählige Kriegsmänner in ihren blanken Rüstungen und schliefen. Zu hinterst im Saal, dem Eingang gegenüber, sass an einem besondern Tisch der Heerführer. Da erhob er wie im Traum sein würdevolles Haupt und fragte ernst einen Kriegsmann an seiner Seite : «Wie spät ist es?» — «Eintausendachthundert und dreissig», gab dieser zur Antwort. «So müssen wir noch fünfzig Jahre warten», sprach der Führer, senkte sein Haupt und schlief weiter.
Der Hirt dachte, die Kriegsleute könnten von den unermesslichen Schätzen an Gold und Edelsteinen leicht ein paar Hände voll entbehren. Lautlos zog er sich zurück, liess das Schaf einstweilen in der Höhle und merkte sich den Eingang zu der unterirdischen Herrlichkeit gut. Später kam er wieder an denselben Ort und wollte sich etwas von den Kostbarkeiten aneignen. Aber wie er auch suchte, nirgends war der Eingang zu der Höhle zu finden, und das sonderbare Schaf liess sich nie wieder erblicken.
Emmentaler Sagen, Hermann Wahlen, 1962 Gute Schriften Bern
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.