Vor Zeiten hatten die Urner mit ihren Nachbarn von Glarus einen hartnäckigen Streit wegen der Landesgrenze. Gar oft zankten sich die Älpler in ihren seltsam singenden Mundarten, wenn sie von beiden Seiten zugleich zur Alp fuhren mit ihren Sennten. Jeder Teil wollte von den schönen Alpen, die unter den Gletschern der Clariden lagen und die das urnerische Schächental und das glarnerische Linthal trennen, möglichst viel mit seinen Herden abweiden.
Also konnten sie sich nie einigen. Da, nach langem Hin- und Herstreiten, verstanden sie sich endlich zu folgendem Übereinkommen: Es sollten sich die beiden Läufer von Uri und Glarus zur Tag- und Nachtgleiche jeder aus seinem Lande frühmorgens beim ersten Hahnenschrei aufmachen und gegeneinander der strittigen Grenze zulaufen. An der Stelle aber, wo sich die beiden Standesläufer begegnen würden, sollte für ewige Zeiten die Grenze zwischen Uri und Glarus sein, treffe es nun hinüber oder herüber, viel oder wenig.
Als nun die beiden Länder das abgemacht hatten, dachte ein jedes Volk daran, das andere zu überschlauen. Die Glarner nahmen einen großen, fetten Hahn und fütterten und mästeten ihn toll und voll, damit er ja recht kräftig in den Morgen hineinkrähte. Die Urner dagegen setzten ein ärmliches, nichtsiges Gockelchen in einen Korb und gaben ihm gerade nur so viel zu essen, daß er nicht verhungerte.
Wie nun der anberaumte Morgen kam, fing der Urner Hahn zu Altdorf schon in aller Herrgottsfrühe greulich zu krähen an. Sofort machte sich der Urner Läufer davon durchs wilde Schächental gegen den Klausenpaß hinauf.
Doch auf der anderen Bergseite, unten im Dorfe Linthal, standen die Glarner und ihr Läufer umsonst erwartungsvoll, schon bevor es dämmerte, um den Hühnerpferch. Ihr Hahn wollte nicht krähen. Es kam der Tag, es kam die Sonne von den Schneebändern des Tödi und Selbsanft zu Tal gestiegen. Der Hahn wollte nicht krähen. Obwohl nun die Glarner fast umkamen vor Ärger und Ungeduld, überwanden sie sich doch und ließen den Läufer nicht vom Fleck, bis der dicke Hahn gegen Mittag endlich zu krähen anfing.
Jetzt stürmte der Glarner Läufer davon, und obwohl es bald erschrecklich bergauf ging, gab er doch nicht ab und lief und lief immer höher. Ach, wenn ich doch wenigstens bis zur Paßhöhe des Klausenpasses gelangen möchte! dachte er. Aber auf einmal fuhr ihm der Schrecken in die Beine. Ein Mann stand auf der Höhe ob ihm und kam gemächlichen Schrittes bergab. Das konnte nur der Läufer von Uri sein. Obwohl ihm das Herz hoch klopfte, blieb der wackere Glarner nicht stehen. Erst recht eilte er nun bergan, um noch so viel als möglich für seine Herren in Glarus vom strittigen Boden zu retten. Bald stießen sie zusammen. "Hier ist die Grenze!" rief frohlockend der Urner. Da ließ der Glarner den Kopf hängen und bat flehentlich: "Nachbar, sei gerecht und gib mir noch ein Stück vom Weidland, das du errungen hast." Erst wollte der Urner nichts davon wissen. Er machte es wie das Wappentier auf der Urner Landesfahne, er machte einen Stierkopf. Doch der Glarner Läufer gab nicht nach mit Zureden und Bitten, bis der Urner sich endlich erbarmte und sagte: "So viel will ich dir noch lassen, als du mit mir, mich an deinem Halse tragend, bergauf läufst."
Jetzt packte ihn der Glarner Läufer mutig an und trug ihn keuchend den steilen Bergpfad hinan. Schon glaubte er die Jägerstöcke zu sehen, da ward es mit einem Male Nacht vor seinen Augen. Er fiel zusammen und war tot. - Heute noch kann man das muntere Grenzbächlein sehen, an das der tapfere Glarner den Urner Läufer noch zu tragen vermochte.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.