Zur Zeit, als die Eidgenossen mit dem Herzog Leopold von Österreich im Kriege lagen und ihn bei Sempach so gewaltig aufs Haupt schlugen, standen um den lieblichen, kleinen Baldeggersee eine ganze Reihe Burgen, die österreichischen Edelleuten gehörten. Wie nun die siegreichen Eidgenossen nach der Schlacht bei Sempach in die Gegend des kleinen Sees kamen, brachen und verbrannten und zerstörten sie eine Burg nach der andern. Es fielen die Burgen Baldegg, Lieli, Richensee und Oberreinach, und weithin leuchteten ihre Feuer und verkündigten den Untergang ihrer stolzen Herrschaften.
In jenen Tagen stand ob dem Baldeggersee auch die Burg Heidegg. Mit Grausen sah die Edelfrau, die allein mit ihren Mägden im Schloß war, wie ringsum die festen Burgen ihrer Gefreundeten lichterloh brannten. Und obwohl sie eine gute Frau war, eine Edelfrau der Tat und nicht nur des Namens, und obwohl sie die Armen immer reichlich beschenkt und den Notleidenden geholfen hatte, versprach sie sich dennoch von den Eidgenossen nichts Gutes. Sie kannte ihren unbändigen Sinn. Und nun würden sie wohl noch von Kampfeswut erfüllt sein und wollten gewiß der Herren Burgen, die so nahe bei ihren Ländern standen, einmal gründlich ausräuchern und zerstören.
Als nun die Edelfrau von Heidegg durch ihre kundschaftenden Mägde vernahm, daß die Eidgenossen eben die Burg Lieli oder Neuneck, wie sie auch hieß, erstürmt und angezündet hätten, wußte sie, daß nun ihre Burg, als die den Eidgenossen zunächstliegende, darankommen würde. Jetzt rötete das aufsteigende Feuer der erstürmten Burg weithin den Himmel, und nicht lange ging es, da meldete der Knabe eines Hörigen, daß die Eidgenossen durch den dichten Wald vom unteren Klotisberg nach Heidegg hinüberstürmten.
Verzweifelt schrien die Mägde auf und umringten die hilflose Herrin. Alles schien verloren.
Doch die gottesfürchtige Edelfrau verlor den Mut und das Gottvertrauen nicht. Sie warf sich auf die Knie und gelobte der Muttergottes, eine Kapelle zu erbauen, wenn das Schloß verschont bliebe. Da war es seltsam, es wurde auf einmal dunkel in der Burg, mitten am Tag. Und als die Edelfrau erschrocken aufstand und an ein Bogenfenster trat, sah sie zu ihrer Verwunderung einen dichten Nebel daherziehen, der sich über die ganze Gegend und, allmählich undurchdringlich werdend wie eine Mauer, um ihre Burg Heidegg legte. Zugleich hörte man den Dinkelbach ungewöhnlich rauschen.
Lange, lange lag der Nebel über der Landschaft, und lange zitterten und zagten die Mägde in der Burg. Jeden Augenblick erwarteten sie das wilde Kriegsgeschrei der heranstürmenden Eidgenossen und das Brüllen ihrer Harsthörner zu vernehmen. Doch es blieb alles totenstill, bis endlich die Nacht hereinbrach.
Schweren Herzens begab sich die Edelfrau in später Nachtstunde zur Ruhe. Wie erstaunte sie aber, als sie am andern Morgen vernahm, daß die Eidgenossen wohl die Burg Heidegg hatten plündern und niederbrennen wollen, daß sie jedoch im dichten Nebel, der ganz unversehens dahergeflogen sei, den Weg verfehlt hätten. Sie seien dann nach langem Umherlaufen am hochgehenden, tosenden Dinkelbach ganz von der Heidegg abgekommen und hätten sich erst auf der oberen Mau wieder zurechtgefunden. Danach hätten sie die ihnen zu weit vom Weg abgekommene Burg aufgegeben und seien rasch abgezogen, da sie vor Einbruch der Nacht noch ihr Feldlager erreichen wollten.
Also war die Burg Heidegg vom sicher scheinenden Untergange gar wunderbar gerettet worden. Die Edelfrau aber ließ eine schöne Schloßkapelle bauen, die heute noch die Inschrift trägt: Procul estote profani! Was ungefähr sagen will: Ferne bleiben sollen die Frevler!
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.