In der Zeit, als es in der Schweiz noch besonders kunstreiche Holzschnitzler gab, lebte auch im Walliser Dorfe Reckingen ein solcher, der gar feine Sachen schnitzeln konnte.
Eines Tages, als er wieder in seiner Werkstätte saß und die Glocke von Reckingen das Ave durchs Tal läutete, hob er lauschend den Kopf, denn er glaubte hoch oben im Hohbachwalde ein wundersames Singen zu hören. Als aber das Läuten vorbei war, vernahm er nichts mehr. Aber er hatte es unter die Leute gebracht, und am andern Tag, als die Glocken wieder das Ave läuteten, lauschte er mit noch vielen zum Bergwalde empor. Alle hörten nun das wundervolle Singen. Von jetzt an vernahmen die Reckinger die geheimnisvollen Melodien alltäglich unter dem Aveläuten.
Den Holzschnitzler aber ließ es nicht ruhen. Er wollte wissen, woher das Singen komme, und so stieg er immer wieder zum Hohbachwalde hinauf, so lange, bis er endlich eine Riesentanne herausgefunden hatte, aus der das wundervolle Singen kam. Er teilte es den Talgenossen mit, die voll Scheu die singende Tanne anstaunten.
Doch der Holzschnitzler war damit nicht zufrieden. Die singende Tanne ließ ihm keine Ruhe mehr. Und eines Tages wurde sie auf sein Verlangen gefällt und durch ein wohlangelegtes Reistgeleit zu Tal befördert.
Da wählte er aus dem Holze des gewaltigen Baumes den schönsten, ästelosesten Klotz aus, denn er hatte vor, aus diesem Stück Holz das Bild der Jungfrau Maria zu schnitzeln. Nun schaffte er Tag und Nacht an diesem Werk. Er hatte für nichts mehr Augen als für die immer deutlicher und schöner aus dem Holzstück herauswachsende Jungfrau Maria. Und nach Jahr und Tag war ihm das Werk meisterlich gelungen. Wer immer das Bild in seiner Werkstatt sah, der sagte, daß weit und breit kein Marienbildnis seiner Jungfrau an himmlischer Anmut und seelischer Hoheit gleichkomme.
Jetzt war der Holzschnitzler zufrieden. Er schenkte das Bildnis der Kirche zu Reckingen. In feierlicher Prozession trug man die herrliche Holzstatue durch die Kirche. Wie sie aber auf den Altar gestellt wurde, siehe, da öffnete mit einem Male das anmutvolle Marienbild den Mund, und noch einmal hörten die Leute die wundersamen, langvermißten Gesänge, die früher aus der Riesentanne vom Bergwald herabgekommen waren. Sie fielen auf die Knie nieder und priesen die Güte und Milde der Jungfrau Maria unter Freudentränen.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.