In den Alpentälern der Schweiz ist das Jauchzen heimisch; denn wenn der einsame Senn auf seiner Alp zu jauchzen anhebt, ist er auf einmal nicht mehr allein. Soweit seine Jodler hingelangen mögen, kommt ihm von allen Flühen ein fröhliches Echo. Es ist gerade, als antworteten ihm allüberall aus Schlucht und Band die Stimmen der unsichtbaren Berggeister.
Es gibt aber in einigen Bergkantonen einen besonderen Jauchzergesang, der nur jenen Gegenden eigentümlich ist und der vor allem schön tönt. Das ist der Kuhreihen. Wer durch die himmelanstrebenden Berge des Berner Oberlandes und des Luzerner Entlibuchs [Entlebuch] und durch andere Alpentäler steigt, wird diese seltsamen Jodelgesänge mit Freuden vernehmen. Einer der schönsten Kuhreihen aber ist der Kuhreihen der Welschfreiburger, der "Ranz des Vaches", mit seinem schwermütigen Lockruf: Lioba, Lioba!
Einst wußte man auf den Schweizer Alpen nichts von Kuhreihen. Da sömmerte denn einmal ein Berner Senn namens Res sein Vieh auf der Bahlisalm im Hasli. Als er nun eines Abends seine Kühe gemolken hatte und sie wieder in die Weiden hinausziehen ließ, schaute er noch eine Weile, den überschäumenden Milcheimer in der Hand, nach den Schneebergen, die eben das Alpenglühen mit rosafarbenen Schleiern überzog. Dann rief er seiner Liebsten nach der Seealp den Alpsegen zu, schritt in die Hütte, trank im Milchkämmerlein noch ein Näpflein Milch und stieg danach auf die offenen Nistern, wo er sich ins Wildheu legte und sogleich einschlief.
Aber mitten in der Nacht weckte ihn das Aufschlagen der Hüttentüre und ein seltsames Knistern und Knattern im Herd. Verwundert richtete er sich auf seinem Heulager auf, und nun sah er zu seinem Erstaunen unten in der Hütte drei fremde Männer, die eben den großen Kessel zum Käsen über das aufflackernde Feuerlein der Wellgrub rückten.
Erst wollte er auffahren und fragen, was es denn da mitten in der Nacht gebe. Als er jedoch den riesenmäßigen Mann, der am Herd stand, um den Kessel zu richten, näher betrachtete, verhielt er sich mäuschenstill. Jetzt trug der zweite der unheimlichen Gesellen die Mutteli (rundes Holzgefäß) voll Milch herbei, auf denen eine zolldicke Nidel (Rahm) lag, und leerte sie in den Kessel. Es war ein blasser Jüngling mit einem goldhellen Haargelock. An der Feuerplatte aber hockte ein grüngekleideter Jäger, der finster in die Glut starrte und ab und zu ein Holzscheitlein ins Feuer schob. Erschrocken schaute der Senn Res von seinem Heulager dem Tun und Treiben der nächtlichen Gäste zu.
Jetzt zog der Grüne aus seiner Jagdtasche ein Fläschlein und goß blutrotes Lab in die Milch, um sie zu scheiden. Dann setzte sich der erste, als der Senn, auf den Herd zum Kessel, nahm den Brecher, einen geästelten Stab, zu Händen und begann ruhig die Milch umzurühren. Der junge, blasse Knecht aber mit dem flachsfarbenen Schopf ergriff ein gewundenes Horn und schritt der Türe der Hütte zu, die von selber aufging. Und nun hörte der aufmerksam lauschende Res wundersame Töne, wie er sie bisher noch nie weder gehört noch geträumt hatte. Ein grenzenloser Jubel, eine über alle Berge hinausjauchzende Lerchenseligkeit war vor der Hütte in dem wundersamen Lied. Und dann wieder hallte daraus eine heimweherische, bodenlose Schwermut. Es war ein unsäglich schöner Gesang. Oder waren es lauter Alphornklänge? Res wußte es nicht, das Herz verging ihm schier vor Lust. Deutlich hörte er, wie seine Herde, von den zauberhaften Klängen angezogen, sich der Sennhütte näherte. Und nun bemerkte er auch, wie das helle Klingen der Schellen und das dumpfe Läuten der großen Senntentreichle gar seltsam hineinstimmten in das schöne Lied. Es war ihm, als höre er seine Herde in stillem Reihen um den Sänger herumgehen. Und dann ergriff der blasse Jüngling sein Horn nochmals und ließ es draußen in die schöne, hochsommerliche Bergnacht hinausklingen, nur langsamer, gezogener als vorher.
Da schien alles zu Berg und Tal aufzuleben. Die Berggeister gaben den Gesang aus allen Flühen und Tobeln zurück. Es war, als wären Himmel und Erde davon erfüllt. Still ging der junge, goldlockige Knecht wieder in die Hütte hinein. - Unterdessen hatte der riesenhafte Senn am Herd seine Verrichtung beendet. Er schöpfte die Schotte in drei bereitstehende Gepsen hinein. Aber seltsam, in der einen Gepse erschien die Milch blutrot, in der zweiten grasgrün und in der dritten schneeweiß.
Mit hochklopfendem Herzen mußte der Res nur immer so zuschauen. Aber plötzlich schrak er zusammen, denn der riesige Senn rief mit fürchterlicher Stimme zu ihm hinauf: "Steig jetzt herunter, Menschlein, du sollst dir eine Gabe wählen!"
Zitternd, aber gehorsam stieg der Res von den Nistern, denn der blasse Jüngling hatte ihm freundlich zugenickt. Als er das Leiterchen hinab war, führten ihn die Männer vor die drei Gepsen. Und dann sprach der riesenhafte Senn: "Sieh, aus einer dieser drei Gepsen mußt du trinken. Du hast die Wahl, aber überlege dir's wohl, ich rate dir's. Die rote Gepse ist meine Gabe. Trinkst du daraus, so wirst du stark und gewaltig wie ein Riese und also mutig, daß dir kein Mensch auf Erden wird widerstehen können. Zudem gebe ich dir noch hundert schöne rote Kühe, die schon morgen früh auf deiner Alp grasen sollen. Greif zu, Bürschlein!" Darauf sagte der Grüne: "Trink lieber aus der grünen Gepse! Ich schenke dir hundert Taler und klingendes Gold. Hör, wie es lieblich klingelt!" Unversehens schüttelte er einen ganzen Haufen Silbertaler und Goldstücke dem Hirten vor die Füße, dem die Augen vor ihrem Glanze fast übergingen. Der blasse, goldlockige Jüngling aber stand ruhig, auf sein Alphorn gestützt, da und sagte dann weichen Tones: "Trink aus der weißen Gepse, so wirst du schon am kommenden Morgen singen und jodeln und dies Alphorn blasen können, so schön, wie du's eben von mir gehört hast." Da rief der Res, sich zusammennehmend: "So will ich lieber die Riesenkraft und die goldenen Schätze nicht, ich wähle dein Lied und dein Alphorn und trinke aus der weißen Gepse!" Damit hob er das Mutteli an den Mund und trank. Es war nichts anderes als frische, würzige Milch in dem Gefäß, mit einem seidenzarten Rahmschäumlein darauf.
"Du hast gut gewählt", sagte der Goldlockige. "Hättest du anders gewählt, so wärst du ein Kind des Todes gewesen, und viele hundert Jahre wären vergangen, bis ich mein Geschenk den Menschen wieder hätte anbieten dürfen. Nimm also das Alphorn, und morgen wirst du singen, jodeln und blasen können wie ich."
Plötzlich waren die drei unheimlichen Gesellen verschwunden; das Feuer in der Wellgrub erlosch, und Res fühlte sich von unsichtbaren Händen auf sein Wildheulager emporgehoben. Als er am Morgen erwachte, wollte er erst alles für einen Traum nehmen. Aber neben ihm lag das Alphorn. Und als er nun vor die Hütte hinaustrat, begann er das Horn zu blasen und zu singen und zu jodeln. Das klang so schön, daß es schien, als beeile sich die Sonne, die eben hinter dem Grat heraufstieg, noch schneller als sonst über die Schneeberge hinweg auf die Alp herunterzuschauen.
Mit Verwunderung und großer Freude aber lauschten die Hirten auf den Alpen dem wunderbaren Gesang. Und nicht lange dauerte es, so antwortete die Liebste des Res ihm von der Seealp in den gleichen Tönen, wenn das Alpenglühen auf allen Bergen lag wie das Röslein auf der Wange eines schlummernden Kindchens. Und also hat sich der Kuhreihen vererbt von Geschlecht zu Geschlecht in den Alpenländern der Schweiz bis auf den heutigen Tag.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.