Gegen die Westschweiz zu, da wo sich die welschen und die deutschen Eidgenossen kaum mehr auseinanderkennen und in beiden Sprachen zu reden vermögen, liegt der schöne Bielersee mit der großen, grünen Petersinsel. An diesem See nun befindet sich, am Fuße des Berges Jolimont, das bernische Städtchen Erlach.
In diesem Städtchen stand einst ein festes Schloß, wo harte Schloßherren hausten, die das Volk arg plagten. Unter ihnen war einer, dessen Andenken rings um den See heute noch ein Fluch ist. Er war ein Zwingherr und Bosnickel erster Güte. Nicht nur plagte er das Land, er hatte seine besondere herzlose Lust daran, seine eigenen Knechte und das ganze Schloßgesinde zu quälen. Wer immer von seinen Knechten zu entwischen vermochte, den sah er nimmer wieder. Denn er verlangte von ihnen übermenschliche Arbeit. Und wenn sie nicht alles genau verrichteten, wie er's haben wollte, so schlug er sie mit der Reitpeitsche. Und ganz besonders haßte er die Schwächlichen, die bei der harten Fron zusammenbrachen. Er verhöhnte sie und hetzte so lange seine bissigen Hunde auf sie los, bis sie unter Stöhnen und Jammern wieder an die Arbeit krochen. Manch einer ging dabei zugrunde, den er dann lachend in den Burggraben werfen ließ.
Da kam denn eines Abends ein landfremder Knecht aufs Schloß und bot dem Schloßherrn seine Dienste an. Der Tyrann musterte ihn vom Kopf bis zum Fuße, und wie er sah, daß der fremde Knecht von außergewöhnlich kräftiger und hoher Gestalt war, gedachte er ihn gehörig auszunützen, bis auch er zur Vogelscheuche, zum Schatten seiner jetzigen Gestalt würde. Dann wollte er ihn durch seine Hunde wieder durchs Tor in die weite Welt hinaushetzen lassen.
"Bist du auch stark genug, Kerl?" fragte er den fremden Knecht. "Beweise mir deine Kraft. Zeig einmal, ob du diesen gewaltigen Stein hier zu heben vermagst." Damit wies er auf einen mehr als drei Zentner schweren Felsblock, der an der Schloßmauer lag. Der Fremde lächelte ein bißchen. Dann packte er den Stein mit beiden Händen und schleuderte ihn wie einen Ball so hoch in die Luft, daß er beim Herabfallen tief in den Erdboden hineinfuhr.
Der Schloßherr erstaunte. "Gut, du kannst bei mir einstehen und sollst es gut haben", sagte er. Er stellte ihn also an und behandelte ihn anfänglich nicht so übel. Bald aber begann er auch an ihm seine Bosheit auszulassen, denn er konnte keinen zufriedenen Menschen sehen.
Einst schickte er ihn mit vier starken Schimmeln in den nahen Vowerenwald, damit er ein Fuder Holz hole. Dort angekommen, belud der Knecht den Wagen übermäßig. Wie er nun aus dem Walde heimzufahren wollte, blieben die zwei vorderen Pferde stehen und waren trotz allem Hüsten und Hotten nicht mehr vom Fleck zu bringen. Da spannte sie der Knecht aus, band sie hinten an den Wagen und zog statt ihrer an der Holzfuhre, worauf es flott vorwärtsging. Mit Verwunderung sah das der Schloßherr vom Söller seiner Burg aus.
Als nun der Knecht ins Städtchen Erlach einfuhr, wurde das Stadtpflaster also holprig, daß auch die andern zwei Pferde bockig wurden und nicht mehr weiterzubringen waren. Doch der Knecht pfiff ein Schelmenliedchen, spannte auch diese zwei Pferde aus und zog die ganze ungeheure Last in einem Ruck bis in den Schloßhof hinauf. Noch heute kann man die tiefen Wagengeleise im alten Stadtpflaster sehen. Der Zwingherr aber guckte verstohlen aus einem Fenster und sperrte Mund und Augen auf. Der Verstand stand ihm still. Wie konnte nur ein gewöhnlicher Mensch so stark sein? Nun bekam er doch heimlich Furcht vor dem fremden, seltsamen Knecht, und er beschloß, ihn so oder so aus dem Wege zu schaffen, damit er ihm nicht eines Tages über den Kopf wachse.
Am Tage nachher befahl er seinen Knechten und Fronleuten, einen tiefen Sodbrunnen zu graben. Tag und Nacht mußte daran gearbeitet werden. Der starke Knecht leistete dabei mehr als die andern alle miteinander. Zuletzt, als der Brunnen schon tief war, hieß er alle hinaufgehen, er wolle den Brunnen allein noch fertig graben. Die Knechte stiegen aus dem Sodbrunnen ans Tageslicht, also daß der fremde Knecht noch allein auf dem Grunde des Brunnens arbeitete.
Da ließ der Schloßherr, dem der starke Knecht immer unheimlicher vorkam, einen mächtigen Steinblock heranwälzen und in die Brunnengrube auf den starken Knecht hinabstoßen, in der Hoffnung, der gewaltige Block werde ihn zermalmen wie in einem Mörser. Aber sogleich fuhr der Steinblock wieder aus dem Sodbrunnen, und des starken Knechtes Stimme rief höhnisch: "Ha, ha, ihr wollt mir Sand in die Augen streuen! Laßt das lieber bleiben!"
Da ergriff panischer Schrecken die Knechte und Fronleute. Der Schloßherr aber entsetzte sich, erbleichte und floh, bebend an Leib und Seele, in die Burg hinauf. Doch jetzt tauchte auch der starke Knecht aus dem Sodbrunnen auf. Er schwang sich hinaus und lief mit grimmigem Angesicht dem Schloßherrn nach in die Burg hinauf. Dann hörte man ein jämmerliches Geschrei, und von da an sah man weder den Zwingherrn noch den starken Knecht jemals wieder.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.