Als die Landvögte der drei Länder Uri, Schwyz und Unterwalden den Tod Gesslers durch den Schützen Tell vernahmen, erschraken sie. Es wurde ihnen unheimlich in dem Lande, dessen Volk sie so lange auf jede Weise erniedrigt, geplündert und geknechtet hatten. Vergeblich suchten sie Wilhelm Tell überall; er war nicht aufzufinden. Statt nun gerechter zu herrschen, glaubten sie die unbotmäßigen Hirten erst recht mit unerbittlicher Strenge niederzwingen zu müssen. Also trieben sie's ärger als zuvor.
Doch ihre Zeit war gekommen. Am Morgen des Neujahrstages 1308 erhoben sich auf einmal die Talleute von Schwyz und zogen mit ihrem blutroten Fähnlein unter Werner Stauffacher und den Führern des Volkes über den kleinen See von Lowerz [Lauerz] auf die Felseninsel Schwanau los, denn der See war fest zugefroren.
Der Untervogt von Schwanau, ein Vetter des von Tell erschossenen Landvogtes Gessler, versuchte vergeblich, die Stürme der wütend anrennenden Schwyzer abzuschlagen. Die Burg wurde erstiegen, und dann ergriffen die eindringenden Hirten den Untervogt, der so lange das Land bedrückt und die Leute in seinen tiefen Schloßkerkern hatte verhungern lassen, und stürzten ihn zum gleichen Fenster hinaus in den See, durch das sich einst die geraubte Gemma von Arth gestürzt hatte. Das Eis brach unter seiner Last, und nie mehr tauchte er aus der grünen Flut auf. Aber noch lange danach sah man ihn als ein Gespenst rings um die Burgmauer laufen, verfolgt von einer weißgekleideten Jungfrau, die eine brennende Fackel trug. Auch der Roggenberg, wie die Burg zu Küßnacht genannt wurde, fiel, und ebenso die Burg zu Brunnen. Beide wurden niedergerissen. Ein kleiner Burgstall bei Schwyz zu Perfiden sank ebenfalls in Trümmer. Aber eine treue Dienerin trug den Burgvogt, in einem Tragkorb verborgen, aus dem brennenden Bau und rettete also ihrem Herrn das Leben.
Auch die Urner standen wider die Tyrannei auf wie ein Mann. Auf einmal tauchte der lange umsonst von den Vögten gesuchte Schütze Tell mit seiner Armbrust mitten auf dem Hauptplatze zu Altdorf auf, und mit ihm erschien der Heerhornträger von Uri und blies mit Macht den Uristier.
Das Volk rottete sich zusammen, und bald danach fiel das stolze, aber noch unvollendete Schloß Zwing-Uri und wurde dem Erdboden gleichgemacht.
An demselben Neujahrsmorgen unternahmen es auch die Leute von Unterwalden, der Vögte Joch abzuschütteln. Aber sie hatten es schwerer als ihre Bundesgenossen in den andern zwei Ländern. Denn auf der Burg zu Sarnen hauste der Landvogt Landenberg, ein mächtiger Herr, dem mit Gewalt nicht beizukommen war. Da versuchten es die Bauern von Obwalden mit List. Alle Neujahrstage mußten sie ihm Geschenke auf seine Burg zutragen. Diesen ihnen aufgezwungenen Brauch benutzten sie.
Als der Vogt mit seinen Gewaffneten auf seinem rabenschwarzen Pferde zur Frühmesse von seiner Burg herab ins Dorf ritt, begegneten ihm zwanzig Männer, die Kälber, Ziegen, Schafe, Wildbret mancher Art und fette Käse den Burgrain hinauftrugen und -schleppten. Der Landvogt war freudig überrascht über die diesmal so überreichen Gaben. Er sagte zu den Bauern, sie sollten nur hinaufgehen auf sein Schloß und dort auf ihn warten, bis er aus dem Gottesdienst käme. Warum auch sollte er diese Leute nicht in seine Burg hinaufgehen lassen? Sie sahen ja alle so harmlos aus und trugen nichts als lange Stöcke bei sich, mit denen sie ihre Kälber und Ziegen antrieben. So ritt er getrost fürbaß.
Aber als sich die Hirten des Schloßtores versichert hatten, nahmen sie unversehens Spieße aus ihren Hirtenhemden und Wämsern hervor und steckten sie auf ihre Stöcke. Gleichzeitig stieß einer in ein Horn, das die Kuh von Unterwalden hieß.
Jetzt brachen aus einem neben der Burg stehenden Erlenholze dreißig weitere Talmänner hervor, die alle Hellebarden und Knüttel trugen, und eilten schnurstracks dem Burgtor zu. Wohl liefen nun die Schloßknechte und das Gesinde herbei, doch sie wurden mit leichter Mühe unschädlich gemacht.
Eben trat der Landenberg aus der Dorfkirche zu Sarnen. Da sah er aus dem Dache seiner Burg eine Flamme aufzüngeln. Und als er nun erschrocken, eine Feuersbrunst befürchtend, mit seinen Leuten hinaufreiten wollte, wurde er von dem zusammenströmenden Landvolke gefangen. Erst wollte man ihn erschlagen. Aber da er zitternd schwor und auf den Knien versicherte, daß er das Land nie wieder betreten wolle, ließen ihn die Hirten mit seinem schwarzen Roß davonreiten, was er also eilig tat, daß die Weiber von Sarnen nachher erzählten, er sei auf einem vierbeinigen Teufel durch die Luft geritten.
Die Burg aber verbrannte und wurde gebrochen.
Auf der Burg Rotzberg nid dem Wald, wo ein Untervogt hauste anstatt des Ritters Wolfenschießen, den ein Mann in Altzellen mit der Axt seiner Untaten wegen erschlagen hatte, lebte eine schöne Dienstmagd. Diese war in einen Unterwaldner Burschen verliebt, der auf dem Rütli den Bund mitgeschworen hatte.
Als nun die Neujahrsnacht anbrach, versteckte er sich mit zwanzig flinken und unerschrockenen Freunden beim Schloß Rotzberg. Er hatte mit der schönen Magd eine Abrede getroffen, daß er immer unter ihr hochgelegenes Fensterlein kommen wolle, wenn der Abendstern über den Bergen aufgehe. Dann ließ sie allemal eine lange Strickleiter hinunter, und daran kletterte er zu ihr hinauf und unterhielt sich mit ihr.
Wie nun der Abendstern über den Schneebergen auftauchte, ging eben in der Burg ein Fensterlädlein auf, und langsam, wie eine Schlange, kam die Strickleiter von der hohen Burgmauer heruntergeglitten. - Flink kletterte der Bursche hinauf. Als er nun oben war und der schönen Magd in ihrem Kämmerlein anfing ein glückhaftiges Neujahr zu wünschen, stiegen auch seine unten harrenden Freunde die Strickleiter hinauf, und ehe die Magd recht wußte, was denn werden solle, standen einundzwanzig kühne Unterwaldner Burschen in ihrem Kämmerlein. Doch merkte sie bald, was es geschlagen. Bevor sie um Hilfe rufen konnte, waren sie und das ganze Burgvolk samt dem Untervogt gebunden. Nicht lange nachher loderten die Flammen aus der Burg auf, und für immer sank sie zusammen.
Aber in der nächstfolgenden Nacht gingen überall in den drei Ländern Uri, Schwyz und Unterwalden gewaltige Höhenfeuer auf und verkündeten allerwärts mit ihrem roten Schein den wiederanbrechenden Tag der Freiheit und den Sturz der frechen Landvögte.
Jedes Jahr in der Nacht des 1. August, als dem Ausgang des Tages, da der Eidgenossen erster Bundesbrief besiegelt wurde, und als Andenken an den Bundesschwur im Rütli, flammen heute noch auf den Bergen des ganzen Schweizerlandes die Freudenfeuer himmelan, läuten alle Glocken und frohlocken alle Herzen.
Sag, Vater, was läuten die Glocken heut nacht?
Daß nimmer der Stolze den Stillen verlacht.
Sag, Vater, was gehen die Jauchzer durchs Land?
Weil immer ein Held noch den Drachen bestand.
Sag, Vater, was lodert am Berge im Wind?
Das heilige Feuer der Freiheit, mein Kind.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.