In nebelgrauen Vorzeiten, als noch fast die ganze Schweiz mit Urwäldern bedeckt war, hauste im Zürichgau ein uraltes Volk, das nur mit Fellen bekleidet war.
Aber jenes Volk wohnte nicht drin im Lande, da die unabsehbaren Wälder voll von wilden Tieren waren, es wohnte an den schönen, blauen Seen, dem Zürichsee, dem Greifensee und dem Pfäffikonersee, die alle drei gar nahe, nur durch anmutige Höhenzüge getrennt, beisammen liegen.
Am Rande dieser blauen Wasser hatten die alten Volksstämme, dicht an den Ufern, ihre Hüttendörfer auf unzählige Pfähle, über denen ein fester Bretterboden lag, gebaut und eingezäunt. Dort fühlten sie sich sicher. Allmorgendlich weckte sie das Waldhorn ihres Wächters aus dem ruhigen Schlafe, in den die Wellen ihr Schlummerlied sangen.
Dann erhoben sich die Pfahlbauer. Vergnügt schauten sie über ihre blauen Seen nach den Schneebergen aus und bestiegen ihre Kähne, um zu fischen, oder wagten sich ans dunkle Land, um mit ihren bronzenen Schwertern, Dolchen und Äxten auf die Jagd zu gehen.
Die Knaben und Mägdlein spielten um die Hütten und machten "Fang mich!" und allerlei Kampfspiele, daß der Bretterboden ob dem Sand krachte und die Hütten zitterten. Wenn aber die Wellen gar hoch gingen und sie der wilde Alpenwind, der Föhn, hetzte, stürzten sich die Pfahlbaujungen und die wilden Mägdlein in die hochgehenden Wogen und schwammen und tollten darin herum wie Nixen, denn das Schwimmen war ihnen schier angeboren. Aber beim Zunachten wurden sie stiller. Sie setzten sich auf den Landesteg vor den Hütten, ließen die Beine ins Wasser hangen und warteten mit Bangen auf die Heimkehr ihrer Väter. Wie jauchzten sie auf, wenn diese sicher am Pfahlbaudorf landeten mit ihren unförmlichen Einbäumen, in denen die Jagdbeute lag! Dann, bald darnach, sahen sie die wilden greulichen Untiere aus der Tiefe des Urwaldes hervorbrechen und an den See kommen, in dem sie ihren Durst löschten. Riesenhafte Höhlenbären, Urochsen, Wisent und Elch und heulende Wölfe, alles wanderte dem Ufer zu.
Die Mägdlein schüttelten gruselnd ihre Schöpfe und Tierfellschürzchen. Die Knaben aber ließen wohl gar von ihren Eibenbogen einen Pfeil zu den Ungeheuern hinüberschnellen. Wenn die Kinder dann nachts in ihren schilfgedeckten Hütten lagen, ward es gar laut am Ufer. Der ganze Urwald schien aufzuheulen und zu brüllen. Dann freuten sich die Pfahlbaukinder ihrer sichern Hütten und dankten ihren heidnischen Göttern, die ihnen ein so sicheres Heim gegeben hatten.
Also lebten die Pfahlbauer lange, lange Zeiten hindurch auf ihren Pfählen an den drei blauen Seen.
Als sie aber nach und nach bessere Waffen herzustellen vermochten und immer zahlreicher wurden, wagten sie sich mehr und mehr ins Land, an Sonnenhänge und auf Hügel. Dort begannen sie ihre Dörfer aufzubauen, wodurch dann auch allmählich die Stadt Zürich entstand, die zuerst nur ein kleines keltisches Jäger- und Fischerdorf war.
Die verlassenen Pfahldörfer an den Seen aber zerfielen nach und nach, bis sie die Wasser bei hochgehender Flut völlig zerrissen oder bis sie irgendwie Feuer fingen und verbrannten. Heute spielen dort die blauen Wellen, wo in grauen Vorzeiten einst die merkwürdigen Pfahlbaudörfer am See gestanden hatten. Aber aus der geheimnisvollen Tiefe heben die Fischer und Forscher heute noch zuweilen seltsame, goldig schimmernde Schwerter, Beile und Dolche, womit das verschollene Urvolk einst mit den wilden Tieren, mit den wilden Menschen und mit der ganzen wilden Zeit ums Leben rang.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.