Auf einer Alp lebte einmal eine junge Frau, Margriata hiess sie. Die lebte sieben Sommer bei den Hirten, doch niemand wusste, dass sie eine Frau war.
Es war im siebten Sommer als sie einmal mit den Schafen den Staffel hinunter ging, als sie ausrutschte und auf eine Steinplatte fiel. Ein Hirtenjunge kam gesprungen, um ihr zu helfen und was sah er da: Das Hemd war verrutscht und er erkannte klar, dass eine schöne Frau in den Hirtenkleidern versteckt war. «Das muss unser Senn wissen», sagte er, «dass wir so ein schönes Mädchen auf der Alp haben!»
«Nein!», rief Margriata, «sag nichts! Wenn du schweigst, will ich dir drei schneeweisse Hemden geben, die niemals schmutzig werden.»
«Schöne Hemden will ich nicht», sagte der Hirtenjunge. «Der Senn muss es wissen, dass wir so ein schönes Mädchen auf der Alp haben!»
«Nein!», rief Margriata, «sag nichts! Wenn du schweigst, will ich dir drei schöne Schafe geben, deren Wolle so dick ist, dass du sie dreimal scheren kannst.»
«Die Schafe will ich nicht», sagte der Hirtenjunge. «Der Senn muss es wissen, dass wir so ein schönes Mädchen auf der Alp haben!»
«Nein!», rief Margriata, «sag nichts! Wenn du schweigst, will ich dir drei schöne braune Kühe geben, die so viel Milch haben, dass du sie dreimal melken kannst.»
«Die Kühe will ich nicht», sagte der Hirtenjunge. «Der Senn muss es wissen, dass wir so ein schönes Mädchen auf der Alp haben!»
«Nein!», rief Margriata, «sag nichts! Wenn du schweigst, will ich dir eine Mühle geben, die so tagsüber Roggen und nachts Weizen mahlt.»
«Die Mühle will ich nicht», sagte der Hirtenjunge. «Der Senn muss es wissen, dass wir so ein schönes Mädchen auf der Alp haben!»
«Wenn du nicht schweigen kannst, sollst du bis zum Hals in der Erde versinken!», rief Margriata und augenblicks versank der Hirtenjunge in der Erde.
«Oh, schöne Hirtin hilf mir», rief der Junge erschrocken, «ich werde schweigen wie ein Grab.» Da gab sie ihm die Hand und zog ihn aus der Erde, doch kaum war er draussen, sagte er: «Der Senn muss es wissen, dass wir so ein schönes Mädchen auf der Alp haben!»
«Wenn du nicht schweigen kannst, sollst du drei Klafter tief in der Erde versinken!», rief Margriata und der Hirtenjunge versank tief in der Erde, so dass man nichts mehr von ihm sah.
Margriata sah traurig auf die Erde und sprach: «Warum tatest du das, kleiner Hirtenjunge? Denn jetzt muss ich gehen.» Und sie begann zu singen: «Leb wohl, mein guter Senne, leb wohl, mein Alpkessel, leb wohl, mein Butterfass, leb wohl, mein kleiner Herd, wo ich geschlafen habe.»
Dann ging sie über den Kunkels hinaus, schaute über die Kühe, und sang: «Lebt wohl meine guten Kühe, jetzt wird eure Milch vertrocknen, denn wer weiss, wann ich wieder zurückkehre.» Die Kühe schauten ihr hinterher, bis sie sie nicht mehr sahen. Sie weinten und ihre Milch versiegte.
Margriata ging weiter und kam an einer Quelle vorbei. Sie sang: «Leb wohl gute Quelle, jetzt wirst du bestimmt versiegen, denn wer weiss, wann ich wieder zurückkehre.» Die Quelle versiegte, kaum war Margriata an ihr vorüber gegangen.
Weiter ging die junge Hirtin und kam an einer grünen Halde vorbei. «Leb wohl grüne Halde, jetzt wirst du bestimmt vertrocknen, denn wer weiss, wann ich wieder zurückkehre.», sang sie, dann schritt sie weiter und als man sie nicht mehr sah, war die Halde vertrocknet.
Sie kam an Kräutern vorbei und sang: «Lebt wohl, ihr guten Kräuter, jetzt werdet ihr bestimmt verdorren, denn wer weiss, wann ich wieder zurückkehre.» Als sie vorüber ging, verdorrten die Kräuter und grünten nicht mehr.
Schliesslich kam Margriata unter der Glocke des Heiligen Georgs und Gallus vorbei und da begannen die Glocken so laut zu läuten, dass der Klöppel mit lautem Klang herausflog.
Die schöne Hirtin hat man nicht mehr gesehen, doch das Lied der Heiligen Margriata, der Schäferin, wird heute noch gesungen.
Quelle: Fassung Djamila Jaenike, erzählt nach dem Lied «Canzun de Sontga Margriata" in der Übersetzung von Christian Caminada.
Ortsangaben: Die Kirche Sogn Gieri steht ausserhalb von Rhäzüns. Es gibt die Quelle Sontga Margriata im Wald von Vignogn. Die Altp Kunkels liegt bei Pfäfers.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.