a) Ein Kind hatte die Gewohnheit, mit seiner Milchsuppe vor das Haus hinaus oder in den Garten auf ein Bänklein zu gehen. Einmal passten ihm die Eltern auf und sahen, dass aus einer Mauerspalte heraus ein »Wurä« mit einer goldenen Krone auf dem Haupte auf das Kind loskroch. Beim Kinde angekommen, nahm er die Krone ab und legte sie auf einen Stein. Dann streckte er seinen Kopf keck in die Milchsuppe und trank begierig von der Milch. Das Kind schaute ihm zu, und endlich schlug es ihm mit dem Löffelchen sachte auf den Kopf und sagte: »Müesch Meckli äu nä, nitt nur Mämmäli!« Nach und nach merkte der Gast, dass er beobachtet wurde. Eines Tages liess er dem Kinde das goldene Diadem zurück, und dann erschien er nicht mehr.
Nach anderer Erzählart setzte sich das Kind in der Stube auf die Bodendiele und kam die Schlange durchs Fenster hinein.
»Müesch Meckli äu nä, nitt nur Mämmäli!« sagt man nicht selten eischiären Kindern oder auch erwachsenen Menschen, die aus den Speisen auswählen, was ihnen passt, oder zu scheu sind, von allem zu essen.
b) An einem Ort ging allemal ein Kind mit seiner Milchsuppe vor das Haus und verzehrte sie dort. Einst passten ihm die Eltern ab und sahen, wie eine »Wurä« herbeischlich, sich zutraulich dem Kinde näherte, ein goldenes Krönchen vom Kopfe nahm und sorgfältig auf einen Stein niederlegte und dann anfing, Milch zu trinken. Nach einer Weile sagte das Kind zu ihr: »Müesch Meckli äu nä, nitt nur Mämmäli!« Solches erzählten sie einem, und der sagte, sie sollten die Krone zu rauben suchen, denn sie sei vom allerbesten Golde, aber ja dabei das Kind beiseite nehmen und ein vierblätteriges Kleeblatt auf den Stein legen. Das nächste Mal passten sie wieder auf, ergriffen heimlich die Krone und legten das Kleeblatt auf den Stein. Sobald das Tier aufhörte zu trinken, nahmen sie schnell das Kind weg. Als nun die Schlange ihre Krone nicht mehr fand, tat sie wie wütig, fuhr hoch in die Lüfte und schoss auf den Stein hinunter, wobei sie ihren Kopf zerschmetterte. Hätten sie das Kleine nicht weggenommen, so wäre sie auf dieses herabgeschossen und hätte es so getötet.
Fr. Gisler-Zwyssig, 68 Jahre alt, Isental
c) Schon längst war den sorgsamen Eltern, die in dem grössern, alten Hause bei der Kapelle Maria Hilf zu Richligen in Gurtnellen daheim waren, aufgefallen, wie ihr Knäblein mit seinem Milchsüppchen jedesmal vor das Haus hinausging und draussen gewöhnlich mit jemand redete. Eines Tages aber wollten sie sich über dieses merkwürdige Benehmen ihres Kindes doch nähere Kenntnis verschaffen und beobachteten es heimlich von einer geeigneten Stelle aus. Der arglose Kleine setzte sich mit seinem Näpfchen auf die oberste Stufe der hölzernen Hausstiege und fing an, wacker zu löffeln; da schlich aber aus einer Ritze der Stockmauer eine ziemlich grosse Schlange – ä Wurä – herbei, näherte sich ganz zutraulich dem Kinde und fing an, begierig die süsse Milch aus dem Gefäss zu trinken. Gutmütig lässt sie der Knabe gewähren, und erst als er sieht, wie das durstige Kriechtier die Brotbrocken unberührt lässt, schlägt er ihm gemütlich mit dem hölzernen Löffelchen auf den glatten Kopf und spricht dazu: »Müesch Meckli äu nä, nitt nur Mämmäli!« Aber für Belehrungen ist das Tier nicht zugänglich; ruhig sauft es weiter und kriecht wieder, nachdem es Hunger oder Durst gelöscht, in sein Versteck zurück.
Die Geschichte hat mir eine alte Frau von Gurtnellen erzählt, die aus jenem Hause stammt, und hat ergänzend beigefügt, das Knäblein sei ihr Ahne gewesen, und sie habe das alles von ihrem Grossvater selig gehört. Sie ist auch auf der untersten Planzern in Altdorf lokalisiert und in Schattdorf.
d) Ein Geissbub pflegte sein Zabig stets auf dem nämlichen Stein zu essen; es passte ihm nirgends besser. Wie ein König auf dem Throne sass er da und überblickte sein Reich. Nach und nach gesellte sich eine Schlange zu ihm und schaute ihm beim Essen zu. Sie lag ganz schön neben ihm und hielt sich ruhig. Er verlor alle Furcht vor dem zutraulichen Tier, und eines Tages gab er ihr auch von seinem Imbiss, indem er dabei freundlich sagte: »Da, müesch äu äs Meckli ha!« Sie nahm es an, und von diesem Tage an erschien sie täglich auf dem Steine, sobald die Essenszeit da war, und der Knabe teilte seinen Imbiss getreulich mit ihr. Er packte extra wegen ihr etwas mehr ein. »Da wit etz doch lüegä, wiä das z'letscht nu üsä chunnt und was diä nu will«, dachte er. Der Sommer nahm Abschied von der Alp, und zum letzten Male betrat der Geissbub seine Hochwacht auf dem Steine und setzte sich, sein einfaches Mahl einzunehmen. Auch die Schlange kam herangekrochen. Aber diesmal glänzte und funkelte ein herrliches, goldenes Krönchen auf ihrem Kopfe. Nach dem Essen nahm sie das Krönchen ab, legte es vor den Geissbub hin und liess es ihm zurück. Er hatte eine grosse Freude. Die Schlange bekam er nie mehr zu sehen, wie manches Jahr er auch die Geissen hütete und den Stein aufsuchte.
Kath. Arnold-Muheim, 90 Jahre alt, Flüelen
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.