a) Ein Gemsjäger fiel auf seiner Wanderung im hohen Gebirge in einen Krachen hinunter. Er konnte nicht mehr heraus, denn die Wände waren glatt und überhängend. Nachdem er vergeblich probiert und sich abgemüht hatte, ergab er sich wohl oder übel in sein Schicksal und fing an, in seinem Kerker herumzukriechen. Bald kam er in einen langen Gang, an dessen Wänden es feucht herabträufelte. Seine Augen gewöhnten sich an die Finsternis und erspähten bald einen furchtbaren Drachen, der mit den Füssen sich an die Wand anschmiegte und die Feuchtigkeit aufleckte. Der Jäger erschrak zuerst, aber das Tier tat ihm nichts zu leide; es schaute ihn nur so an und deutete dann, er solle auch am Felsen lecken. Weil er wirklich Hunger und Durst spürte, befolgte er den Wink und leckte mit seiner Zunge die langsam herabsickernde Flüssigkeit. Der Jäger gewöhnte sich an seine Nahrung und an das Tier, als seinen einzigen Gespanen, der Leben und etwas wie Mitgefühl besass. So mochten viele Jahre verstrichen sein, als einmal der Drache sich von der Wand herabgleiten liess, durch den Gang hinauskroch, dann seinen Kopf zum Krachen hinausstreckte und die Vorder- und hierauf die Hinterbeine auf den Erdboden auflegte. Den Schwanz hängte er noch geraume Zeit in die Höhle hinunter und machte allerlei Bewegungen, um dem Jäger anzudeuten, er solle sich daran hängen. Aber der verstand die Drachensprache nicht, und so flog das Tier allein davon. Jetzt beschlich den armen, einsamen Menschen in seiner Höhle ein furchtbares Gefühl der Öde und des Verlassenseins, es war ihm, als ob sein einziger Freund ihm geraubt worden, ja es kamen ihm Tränen in die Augen. »Mä gseht doch äu, das isch es etz nur äs Tiär gsy, und de nu nid äs scheens!« Zu seiner grössten Freude kam der so schwer Vermisste nach einiger Zeit wieder heran gerauscht und begann von neuem das alte Leben. Der Jäger hätte ihm um den Hals fallen mögen. Als aber der Drache nach langer, langer Zeit wieder Anstalten traf, auszufliegen, kam es dem Gefangenen doch in den Sinn, sich auf dessen Schwanz zu setzen und sich mit den Händen festzuklammern. Das Tier flog langsam auf und setzte seine Last behutsam auf den Erdboden nieder. Der erlöste Jäger eilte rasch nach Hause. Aber wie war alles anders geworden! Von allen Menschen, die ihm begegneten, kannte er keinen einzigen. Daheim stand ein anderes Haus, und niemand von dessen Insassen wollte etwas von ihm wissen, und er selber kannte auch niemand. Vergeblich nannte er seinen Namen und gab sich für den Besitzer des Hauses aus. Da gingen sie endlich zum Pfarrer. Dieser fand in den alten Büchern, dass vor 105 Jahren ein Gemsjäger seines Namens verloren gegangen. 105 Jahre hatte er also in der Höhle in Gemeinschaft mit dem Drachen verlebt! Aber jetzt ging sein Leben rasch dem Ende zu. Er ertrug keine Speisen mehr; alles was er genoss, musste er wieder herausgeben, und er hatte das Gefühl, als ob ein Klumpen Blei in seinem Magen läge. Nachdem er gestorben, schnitt ihn der Arzt auf und fand eine grosse Goldkugel im Magen.
Fr. Wipfli-Herger, 80 Jahre alt.
b) Der Jäger lebte fünf, lebte sieben Jahre im Krachen. Seine Haare waren weiss, als er wieder zu den Menschen kam.
Jos. Maria Zberg, 75 Jahre alt, und a.
c) Als er mit dem Drachen ausfuhr, nahm er Gold mit. Zu Hause konnte er noch solange leben, als er von diesem Golde zu lecken hatte; dann musste er sterben, denn eine andere Kost ertrug er nicht mehr.
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.