Ein fauler Geissbub hatte sich hinter einem Steinblock an den kühlen Schatten gelegt, um ein Schläfchen zu tun. Aber jedesmal, wenn er die Augen schloss, trychelten die Ziegen davon, den Leuten ins Eigentum, und er musste aufstehen und sie holen. Endlich übermannte ihn der Zorn, und er rief: »Diese Hexen soll der Teufel gaumen!« Da sah er auf einmal ein schönes Wybervolch auf ihn zusteuern, und als es vor ihm stand, redete es ihn gar freundlich an und richtete an ihn die wahrhaft bestrickende Einladung, er solle nur herumschlendern, wo es ihm beliebe, oder schlafen nach Herzenslust, es wolle die Tiere schon hüten. Und es packte allerlei schöne und gute Sachen aus und schenkte sie ihm. »Am Herbst«, so erklärte es weiter, »wenn die Bäume ihre Blätter verloren haben, werde ich dich abholen und mit mir an einen schönen Ort nehmen, wo es noch mehr solche Guetsli hat.« Der Bub schaute sich das Wybervolch noch einmal an; es gefiel ihm, und noch mehr lockten ihn die leckern Dinge, die es ihm versprochen. Er zeigte sich mit dem Vorschlag einverstanden und überliess von jetzt an seine Herde, nachdem er sie auf die Weide getrieben, der Obhut des unbekannten Weibsbildes. Er hatte es herrlich. Als er am Herbst von Alp gefahren, erzählte er seinen Eltern, wie schön er es im Sommer gehabt und wie er sich auf die Ankunft des schönen Fräuleins freue. Aber die Eltern schauten das Ding anders an und erschraken; sie sagten dem Bub, das sei der Teufel gewesen, und machten eine Gelte voll Weihwasser bereit, da sollte er dann hineinspringen, wenn das Fräulein komme und ihn abholen wolle. Richtig, als die Bäume sich entlaubt, schwebte es eines Tages dem Hause zu und auf den Bub los. Es war so herrlich und bezaubernd anzusehen, dass dieser ganz starr war vor Staunen und Entzücken, wie ein Vögelein, wenn es die Schlange in ihrem Banne hat. »Ärddoch und ärddoch, spring gleitig«, riefen jetzt die Eltern. Da kam der Bub zu sich und sprang blitzschnell in die Gelte. Das Weibervolch ihm nach. Doch er duckt sich, dass das rettende Wasser über seinem Kopf zusammenschlägt. Da prallt das Fräulein zurück. Aber sobald des Bubs Haare über der Oberfläche auftauchen, stürzt es wieder auf ihn los; er wieder unter Wasser. Endlich schiebt das Weibervolk ohne den Ziegenhirten ab. Alle atmen auf, der Bub gilt als gerettet.
Trotzdem sollten sie sich täuschen. Als er eines Tages im Walde Streue sammelte, stand das Fräulein auf einmal wieder in seiner ganzen Lieblichkeit vor ihm und sagte schmeichelnd: »So jetzt, liebes Büebli, komm du mit mir! Schau nur, die Bäume haben keine Blätter mehr.« Sie standen unter einer Eiche, und da zeigte der schlaue Junge in die Krone hinauf und sagte lächelnd: »Seht ihr denn nicht, dieser Baum hat noch Blätter.« Da musste das Fräulein nochmals unverrichteter Dinge verduften. Es war im Frühling, als die Verführerin das Hirtenbüebli wieder auf dem Felde bei den Kühen traf. Kahl standen noch die Bäume da, aber die Pollen schwellten mächtig an, und die Blätter drängten von innen an die Hüllen wie Hühnchen an die Eierschalen. Freundlich zwar, aber eindringlich, redete es auf ihn ein: »Aber jetzt, Büebli, musst du mit mir kommen, du hast es ja versprochen; kein einziger Baum, wo du auch hinschaust, ist noch belaubt.« Da schmunzelte der Knabe, riss eine schöne, runde Knospe herab vom Eichbaum, unter dem sie standen, löste sie vor den Augen des Fräuleins auf, zeigte ihm die jungen, zarten Blättchen und meinte, indem er mit den Fingern in den Baum hinauf zeigte, die ganze Krone sei voll solcher Blätter. Jetzt fuhr das Weibervolk in grimmigem Zorn aus der Haut und zeigte sich in seiner wahren, abscheulichen Teufelsgestalt. Ausser sich vor Täubi fuhr der Teufel mit seinen spitzen Krallen in die Knospen und zerriss und zerrupfte sie. Dann verschwand er mit einem abscheulichen Gestank. Seit jener Stunde sind die Eichenblätter so fein und eigenartig eingebuchtet.
Fr. Gamma-Gamma, 80 Jahre alt;
Fr. Wipfli-Herger, 78 Jahre alt, beide Schattdorf
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.