Das listige Wildfraueli

Land: Schweiz
Kategorie: Schwank

Im Dorf Tenna im Bündnerland lebte vor langer Zeit der Richter Valentin. Eines Tages fing er in seinem Garten ein seltsames Tier, wie er noch nie eines gesehen hatte. Er trug es ins Haus und rief seiner Frau: «Ursina, bring mir schnell deine Hutschachtel! Ich habe ein unheimliches Tier gefunden und muss es zum Pfarrer bringen, damit er mir sagen kann, was es ist.»

Als Valentin mit seiner Hutschachtel zum Pfarrer kam und ihm das merkwürdige Tier zeigte, war dieser ganz verwundert und sagte: «Ich habe doch eine Bibliothek mit vielen hundert Büchern, alle habe ich gelesen, aber in keinem steht etwas über ein so wunderliches. Tier. Vielleicht ist es gar ein Teufelsvieh und bringt Gefahr über das Land – lass schleunigst den Gemeinderat zusammenkommen, damit er beschliesst, was mit dem Tier zu geschehen hat.»

Sofort rief Valentin den Gemeinderat zusammen. Alle kamen und betrachteten das sonderbare Geschöpf in der Hutschachtel. Es hatte ein feines samtenes Fell, breite Füsse, die aussahen wie Hände, eine spitze Schnauze und kleine zusammengekniffene Augen.

Der Gemeindepräsident schob die Hutschachtel erschrocken von sich und rief: «Passt bloss auf, dieses Tier ist vielleicht so gefährlich wie ein Basilisk. Wenn es die Augen aufmacht und uns anschaut, können wir alle tot umfallen!»

Nun überkam den Richter eine grosse Angst. Er rannte mit der Hutschachtel zurück nach Tenna und lud für den nächsten Morgen die stimmfähigen Männer der ganzen Gegend ins Rathaus ein. Alle kamen und betrachteten erschrocken das samtene Wesen in der Hutschachtel. Keiner der Männer hatte jemals ein derartiges Tier gesehen.

Ein uralter Mann mit einem langen weissen Bart flüsterte bang: «Ich bin so alt, dass ich noch Bärenfleisch gegessen habe und mich noch beinahe an die Arche Noah erinnern kann, aber so etwas Unheimliches habe ich noch nie gesehen. Wir müssen das Tier umbringen, sonst ist es um uns geschehen!»
Grosser Tumult brach nun im Rathaus aus. Alle riefen durcheinander: «Der Urgrossvater hat recht, wir müssen das Tier umbringen!»

Alle waren sich darüber einig, konnten sich aber nicht entscheiden, wie das Ungeheuer mit dem spitzen Rüssel zu Tode gebracht werden sollte.

Einer rief: «Schlagt ihm den Kopf ab!»

Ein anderer: «Hängt es auf!»

Und ein dritter: «Wir müssen es ersäufen!»

Da meldete sich wieder der Urgrossvater zu Wort:«Da gibt es nur eines: Wir müssen das Wildfraueli fragen. Nur das Wildfraueli wird uns sagen können, wie man so ein Ungeheuer umbringt.»

So wurde also das Wildfraueli ins Rathaus geholt. Es liess sich das Geschöpf in der Hutschachtel zeigen und sagte mit listigem Lächeln: «Das ist ein schwieriger Fall. Wenn ich euch raten soll, müsst ihr mir ein schönes Bauernbrot, eine Flasche Wein und ein Goldstück geben.»

Das Wildfraueli bekam, was es wollte, und es rief mit feierlicher Stimme:«Ihr sollt ihm nicht den Kopf abschlagen und es nicht aufhängen. Auch ersäufen sollt ihr's nicht. Es kann nämlich schwimmen. Eine solch gefährliche Kreatur verdient nichts Besseres, als dass man sie lebendig begräbt.»

Alle atmeten erleichtert auf. Sofort wurde vor dem Haus des Richters ein tiefes Loch gegraben, das Tier lebend hineingelegt und rasch wieder zugedeckt. Dort war es ihm so wohl wie dem Vogel in der Luft. Es hatte unter der Erde eine Wohnung mit vielen, vielen Gängen. Sicher habt ihr schon lange gemerkt: Das gefährliche Tier war ein Maulwurf.
 

Trudi Gerster, Schweizer Märchen, 1991
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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