Eines Abends sass das alte Müetterli bei »der alten Post« im Wyler zu Gurtnellen neben der Haustüre auf einem Bänklein. Eine Nachbarin – meine Grossmutter – beobachtete, dass neben dem Müetterli ein prächtiges Maitli sass; das hatte lange, flachsblonde Haare, die ihm lose über den Rücken bis auf den Erdboden hinabwallten und nur oben mit einer Schleife zusammengebunden waren, deren Bänder ebenfalls den Boden erreichten. Die Nachbarin machte das Müetterli auf seinen Gespanen aufmerksam; es sah aber gar nichts von ihm. Es kam ihnen in den Sinn, es könnte eine arme Seele sein, und sie redeten sie an. Da bekannte sie, wirklich eine solche zu sein. Sie komme aus Deutschland und müsse wandern, bis sie an der Strasse ein Haus antreffe, dessen beide Hausgangtüren gegen einander offen seien. In diesem Hause könne sie dann bleiben. Das sei nun hier der Fall. Und wenn dann jemand in dem Hause etwas heische und bekomme und dafür »Vergelt's Gott« sage, so werde sie dadurch erlöst werden. Und richtig, bald kam jemand, und beim Herausgehen aus dem Hause sagte er für eine empfangene Wohltat »Vergelts Gott«. Jetzt war die arme Seele erlöst und wurde nicht mehr im Hause gespürt. Man glaubt, sie habe für ihre Hoffart leiden müssen.
Ja, man sollte immer mit »Vergelts Gott« danken, denn es sind viele arme Seelen, die auf ein »Vergelts Gott« plangen und auch auf ein »Tröst Gott die armen Seelen«; besonders sollte man das tun unter den Haustüren, da sind immer arme Seelen. Neben den Türen und auf den Türsellen ist es am schlimmsten. Lange Zeit hindurch fühlte unsere Mutter jedesmal, wenn sie eine Türselle überschritt, etwas Weiches neben ihren Füssen. Eine andere Person aber sah, dass sie von einer Katze begleitet war. Die Mutter ahnte, dass es eine arme Seele sei, und liess Messen für diese lesen; bald darauf machte sie jene Wahrnehmung nicht mehr. Wenn unsere Mutter ein Haus betritt oder verlässt, tröstet sie an der Haustüre immer die armen Seelen, indem sie sagt: »Tröst Gott die armen Seelen«.
N.N., Gurtnellen, Wyler
Man hört wirklich ältere Leute, wenn sie für etwas danken – und sie tun das fast immer mit »Vergelts Gott« –, obige Formel und vielleicht noch sonst ein Gebet für die armen Seelen hinzufügen: »Vergelts Gott tausendmal; tröst Gott und erlös Gott die armen (oder die lieben) Seelen.« Und zwar tun sie das besonders gerne unter der Haustüre.
Eine Parodie dieses Gebetes aus dem Schächental lautet: »Vergälts Gott tüsigmal, tüsigmal; die liebä Seelä zämä, die andärä nitzet nyt binänand.«
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.