Ein Knecht von Wassen ging jeden Abend ins Meiental, um dort zu hirten, und jeden Abend traf er am gleichen Fleck auf der Schanz ein graues Kätzchen, das sich zu ihm gesellte und ihn eine Strecke weit, immer bis zum nämlichen Punkt, begleitete und dann verschwand. Endlich teilte er dies dem Pfarrer von Wassen mit und fragte ihn um Rat. Der sagte ihm, es sei eine arme Seele, die auf Erlösung blange, und er könne sie erlösen. Er solle sich nach Betenläuten auf den Weg machen, zu bestimmter Zeit an jener Stelle sich einfinden, die Katze auf seine Schulter springen lassen, sie bis zum andern Punkt tragen und dort bleiben, bis es am Morgen Ave läute. Aber vorher müsse er beichten und kommunizieren, sich von seinen Sünden reinigen und zum Sterben bereit halten. Der Knecht willigte ein, und eines Abends nach Betenläuten machte er sich auf den Weg, in der festen Absicht, die arme Seele zu erlösen. Aber an einem fort begegneten ihm Leute, gute Freunde, Bekannte, und alle nötigten ihn, mit ihnen zurückzukehren. Aber standhaft wies er sie ab und eilte vorwärts. Wie er der Schanz sich näherte, da kamen Steine durch den Wald herunter gerollt und sausten dicht vor seiner Nase und hinter seinem Rücken ins Tobel hinunter oder sperrten ihm den Weg. Doch der Wackere hastete vorwärts. Die Eulen und Füchse gaben ein garstiges Konzert, und Schlangen kreuzten zischend den Pfad. Aber zur rechten Zeit erreichte der Wassner sein Ziel, die bekannte Stelle, wo das graue Kätzchen seiner harrte. Es sprang ihm auf die rechte Schulter, und so trug er es bis zu jenem Punkte, wo es jeweilen verschwunden war, und blieb da stehen mit seiner Last die ganze Nacht hindurch. Als am Morgen der erste Klang der Betglocke zu Wassen sich in die frischen Lüfte schwang, flog von der rechten Schulter des tapfern Knechtes eine weisse Taube gegen Himmel.
Aber der Erlöser war in jener Nacht ergraut und wurde in kurzer Zeit eine Beute des Todes.
Jos. Gamma
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.