Früher machte der Sigrist zu Silenen in der Weihnachtszeit mit einem Kruzifix einen Rundgang in der Pfarrei. In den Häusern legte er es auf den Tisch, dann knieten die Leute nieder und beteten mit dem Sigrist die heiligen fünf Wunden, worauf alle den Heiland küssten. Der Sigrist erhielt bei dieser Gelegenheit ein Geldgeschenk, das einen Teil seines Einkommens bildete, während er selber die Leute mit einem Päcklein Weihrauch beschenkte und ihnen ein gutes, glückhaftes Neujahr anwünschte. Er besuchte auch die höchsten Berggüter, wobei er öfters in den Berghäuschen übernachtete. Da konnte es nicht fehlen, dass man sich an den langen Abenden gegenseitig allerlei Erlebnisse und Geschichten erzählte. Der Sigrist gab unter anderm die folgende zum besten.
»Als ich in meinen jungen Jahren z'Dorf ging, hat es mich im Kirchengässlein nicht selten mit Steinen beworfen. Ich sagte das endlich dem Pfarrer, und der ermunterte mich, die arme Seele, denn eine solche sei es, das nächste Mal anzureden. Er werde machen, dass sie sich zeige. Und wirklich, das nächste Mal kam es mir durch das Kirchengässlein herauf entgegen; es sah zuerst aus wie eine »Ziechätä« Laub, verwandelte sich aber alsbald in eine Weibsgestalt, die ich erkannte und anredete. Sie bekannte, sie habe im Leben Kirschen gestohlen und müsse dafür wandlen. Wenn ich ihr verspreche, mein Leben lang keine Kirschen zu essen, so könne sie erlöst werden. Ich habe es versprochen, und seitdem esse ich keine Kirschen mehr. Die arme Seele ist schon erlöst.«
Franz Josef Zurfluh, 75 Jahre alt, Intschi
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.