a) Vielleicht 70 bis 80 Jahre sind jetzt seither verflossen, da lebte zu Silenen ein fröhlicher junger Mann, namens Emanuel Zgraggen. Hatten ihn Lebenslust und Leichtsinn zu einem harmlosen Jugendstreich verführt, oder wurde er etwa beim Kaisern auf einem kleinen Betrug, den er sich aus Jux erlaubte, ertappt, so pflegte er lachend zu sagen: »Ich will's de-n-uf-em Hüfifirä-n-abbiessä.« Da ereignete es sich, dass er auf der Gemsjagd mit einem Kameraden den Hüfigletscher überschreiten wollte und während eines Wortwechsels unglücklicherweise in eine tückische Gletscherspalte zu Tode fiel. Nach 14 Jahren kamen seine Gebeine mit Ausnahme des Hauptes wieder zu Tage und wurden auf dem Friedhof zu Silenen beerdigt.
Soweit dürfte die schlichte Erzählung geschichtliche Wahrheit sein, denn sie wird uns nicht nur von Leuten des Maderanertales, sondern auch von der 80jährigen Nichte Emanuels, Frau Sigrist A.M. Zgraggen-Zgraggen (gest. 1914), als solche mitgeteilt. Die Sage ergänzt noch:
Dreissig Jahre nach diesem unglücklichen Ereignis brach ein Stück Gletscher los, und von der Abbruchstelle stieg längere Zeit ein bläuliches Räuchlein in der Gestalt eines Totenbaumes hervor und wallte talauswärts bis ob den Lungenstutz. Die Menschen wurden aufmerksam, gingen hin und fanden die bleichen Gebeine des Verunglückten. Man legte sie auf eine Bahre und trug sie so bis auf den Lungenstutz, wo man sie in einen Totenbaum tat. In diesem Augenblick fingen sie an zu bluten. So konnten sie nun doch noch in geweihte Erde bestattet werden.
b) Als man beim Eingang zum Friedhof beim Türli die Gebeine einige Augenblicke abstellte, da fingen sie an zu bluten. Die Grossväter von zwei Erzählern haben es selber gesehen. Warum? Ein Geistlicher, darüber befragt, soll gesagt haben, der Verunglückte sei erst in diesem Augenblick eigentlich gestorben. Er sei 30 Jahre vor der ihm zum Tode bestimmten Stunde verunglückt.
c) Eine Mutter sagte oft zu ihrem Büebli: »Channsches de ufem Hüfifirä einisch abbiessä.« – Die gefundenen Knochen legten sie zu Hause auf einen Kasten, da rann Blut aus ihnen.
»Channsch-es de-n-ufä Hüfigletscher gah abbiessä«, ist noch heute, wenn auch selten mehr, eine im Reuss- und Maderanertal gebräuchliche, mehr oder minder scherzhafte Drohung. Auch »Heiwsteffel, Wirri und Inger« glaubt man dorthin verbannen zu können.
Andreas Fedier, Friedrich Epp, Franz Zgraggen
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.