Eine fromme Nonne schien am Sterben zu sein und wurde vom Geistlichen gefragt, ob vielleicht noch etwas ihr Gewissen bedrücke. »Ich hätte wohl etwas zu sagen«, meinte sie, »aber das ist doch sicher keine Sünde. Ich habe nämlich den bösen Menschen das Unglück gegönnt und gedacht, es geschehe ihnen recht.« »Da habt ihr euch nicht wenig verfehlt«, belehrte sie der menschenfreundliche Seelenhirt, »für die armen Sünder soll man liebevoll beten.« Und da sie sich wieder erholte, gab er ihr als heilsame Busse auf: »Zur nächsten Geburt im Orte wird euch die Hebamme holen, und ihr sollt sie begleiten!« So geschah es. In einem hochgelegenen Berggut kamen Zwillinge zur Welt, und die Geburtshelferin befahl der Klosterfrau: »Setzet euren rechten Fuss auf meinen linken und betrachtet über meine rechte Schulter blickend die Kindlein!« Jetzt sah diese mit Entsetzen, wie das eine der Kleinen wie ein Muttermal einen Strick um den Hals, das andere ein Messer an der Kehle hatte. »Wisset«, erklärte die erfahrene Hebamme, »diese Armen sind in einer unglücklichen Stunde geboren, eines wird sich, wenn erwachsen, erhängen, das andere sich selbst leiblos machen; aber betet für sie: Vielleicht wird euer und des ganzen Klosters inständiges Gebet das schreckliche Verhängnis abzuwenden imstande sein.« Die Dienerinnen Gottes flehten in gemeinsamen, beharrlichem Gebet zu Gott dem Barmherzigen um Rettung dieser armen Menschenkinder, und nach drei Jahren starb das eine, im siebenten Jahre auch das zweite in der Unschuld und Reinheit des Herzens.
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.