Dass es für Werden und Sterben und auch für das gesamte Wirken und Schaffen des Menschen glückhaftige und unglückhaftige Stunden gebe, galt früher dem Volke als eine feststehende Wahrheit. Ältere Leute erzählen noch das eine oder andere Beispiel.
In ein ärmliches Häuslein, wo man stündlich die Niederkunft der Mutter erwartete, kehrte ein fremder Bettler ein und bat um ein bescheidenes Nachtlager. »Verzeihet«, sprachen zu ihm die guten Leute, »aber heute abend können wir euch mit dem besten Willen nicht beherbergen; im engen Stübli harrt die Mutter ihrer schweren Stunde, die Stube ist ausser dem das einzige Gemach, welches uns zu Gebote steht, und da wären wir mit euch und ihr wäret mit uns geniert.« Der hartnäckige (g'nietig) Bettler liess sich jedoch nicht abweisen und erhielt endlich die Erlaubnis, auf dem schmalen Ofenbänkli zu nächtigen. Er aber schlief nicht, sondern betete, betete laut und ohne Unterlass, und eine Bitte, inständig und heiss, kehrte immer wieder: »Jetz nu nit, jetz nu nit!« Gegen alles Erwarten zog sich die verhängnisvolle Stunde hinaus; Hebamme und Hausbewohner merkten, um was der seltsame Fremde betete, und machten ihm Vorwürfe. Endlich liess er nach und belehrte sie: »Sehet, das alles waren unglückhaftige Stunden; jetzt endlich ist eine glückhaftige angebrochen. Hätte das Kind vorher das Licht der Welt erblickt, so wäre es zum Unglück geboren worden.« Und nun genas die Mutter glücklich eines gesunden Kindleins, und alle waren von Herzen froh, dass sie dem armen Fremdling Obdach gewährt hatten.
Zu Flüelen soll vor einigen Jahrzehnten ein Bauer gelebt haben, der die glückhaftigen und die unglückhaftigen Stunden kannte. Hatte eine unglückhaftige angefangen, dann stellte er jede Arbeit beiseite, ging mit dem Ingesinde in die Stube und erlustigte sich, bis sie vorüber war, beim Kartenspiel. – So mochten die bösen Stunden gar nicht so verhasst gewesen sein. Wer weiss, vielleicht war's ein Schalk.
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.