Über die glückliche Geburt eines schönen, gesunden Knäbleins freute sich ein liebendes Elternpaar. Da kam ein fremder Bettler in das gastliche Haus und betrachtete das liebliche Kind in der Wiege mit Aufmerksamkeit. Da flog ein Zug der Trauer über sein Antlitz, und den fragenden Eltern sagte er: »Dieses Kind ist in einer unglückhaften Stunde geboren, und drei böse Stunden warten seiner im Leben. In der ersten wird es sich erhängen wollen, in der zweiten, falls es die Stunde der Versuchung überstehen sollte, wird es der Blitz bedrohen (die dritte Gefahr konnte mein Gewährsmann leider nicht mehr angeben). Aber wenn ihr meinen wohlmeinenden Rat befolget, so wollen wir hoffen, dass es alle drei Stunden glücklich bestehen werde. Lehret und übet das Kind von frühester Jugend an, zu allem, was es unternimmt und tut, zu sagen: In Gottes Namen. Ebenso soll es gelehrt werden, in allen Gefahren sein ganzes Vertrauen auf die göttliche Vorsehung zu setzen und zu sprechen: Wo mich Gott behütet, da bin ich behütet.«
Die besorgten Eltern befolgten treu den weisen Rat. Wenn die Mutter des Morgens das Kind aus dem Bettchen nahm, sprach sie dabei: »In Gottes Namen«; wenn sie es kleidete, betete sie laut: »In Gottes Namen«; kurz, zu allem was sie dem Liebling tat, sagte sie: »In Gottes Namen.« Und später, als das Kind reden konnte, sprach auch es bei all' seinen Verrichtungen: »In Gottes Namen.« Und wo immer eine Gefahr drohte, da sprachen die Eltern und lehrten es auch das Kind: »Wo mich Gott behütet, da bin ich behütet.«
Die Worte mit dem bedeutungsvollen Inhalt drangen tief in die Seele des Kindes ein und wurden ihm zur zweiten Natur. Als es siebenjährig war, nahm es einen Strick und eilte damit unter einen Baum, um sich zu erhängen. Es wollte den Strick über einen Ast werfen. Oben auf dem Aste aber lauerte eine brandschwarze Katze und streckte funkelnden Auges ihre Pfote aus, um den Strick zu ergreifen und über den Ast hinüber zu ziehen. »Die häig scho äs Paar Aïgä g'macht!« Das Kind warf den Strick in die Höhe und sagte: »So nimm ihn in Gottes Namen!« Sowie aber der Name Gottes über seine Lippen kam, liess die Katze den Strick, den sie schon gepackt, wieder fahren. Das gefährliche Spiel wiederholte sich, bis die unglückhafte Stunde verflossen war. Da verschwand die Katze, das Kind ging heim und sagte: »Ich ha nit chennä.« Die erste böse Stunde war glücklich überstanden. (Statt des Baumes wird auch ein Dillbaum im Stalle genannt oder ein Balken auf der Ruossdiele).
Das Kind wuchs zu einem kräftigen Jüngling heran. Als dieser eines Sommertages auf dem freien Felde mit mehreren Gespanen arbeitete, brach ein schreckliches Gewitter herein. Ungezählte Blitze erleuchteten die Dunkelheit, schlugen ein, entzündeten Bauerngehöfte, und der Donner rollte ohne Unterbruch. Die sämtlichen Gespanen flohen einer nahen Felsenhöhle zu, um dort sichern Schutz zu finden. Unser Jüngling aber meinte: »Wo mich Gott behütet, da bin ich behütet,« und harrte auf seinem Posten aus. Da, ein fürchterliches Krachen, dass die Erde bebt! Der Blitz hat in die Felsenhöhle eingeschlagen, hat alle darinnen getötet, der tapfere Jüngling aber steht unversehrt auf seinem Posten. Die zweite böse Stunde ist überstanden. – Wer weiss die dritte?
Zacharias Imholz, Spiringen
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.