Zu einem Geissbub auf hoher Alp gesellte sich einst ein altes Müetterli und redete ihn gar freundlich und teilnahmsvoll an. »Gält, dü arms, güets Büebli, dië Geiss gähnt d'r vill Arbet!« Bei diesen freundlichen Worten taute sein Herz auf, und er klagte dem Weiblein offenherzig, wie er so ungehorsame und »gschleinige« (diebische) Tiere zu hüten habe, die immer wieder der Kuhweide zulaufen oder die unzugänglichsten Felsen erklettern und nie beieinander bleiben wollen, wie er im Chybb und Verdruss fast ersticken müsse. »Büebli,« schmeichelte das Fraueli, »wennd dich d'Müetter nyn Morged nachänand nytt b'sägnet, sä gähnt diër d'Geiss nachhär kei Arbet meh, und am nyntä Tagg bringä-n-ich diër eppis scheens, scheens. Witt?« Diese Rede gefiel dem Jungen wohl, und mit Kopfnicken gab er seinen Beifall zu erkennen. Das Wybervölchli zog weiter.
Am nächsten und andern Morgen wusste der schlaue Geissler der segnenden Hand seiner frommen Mutter zu entwischen, und die Ziegen waren tagsüber so zahm und fry, wie er's nicht besser gewünscht hätte. Doch am dritten Tage sollte ihm das Kunststück nicht mehr gelingen. Als er sich wehrte, als die besorgte Mutter das heilige Kreuzzeichen auf seine Stirne machen wollte, und er dann von dem freundlichen Müetterli auf der Alp und seinem verlockenden Angebot erzählte, da musste dies auch der gestrenge Vater wissen. Von nun an war an ein Entwischen des Morgens nicht mehr zu denken, und wenn auch der Bub klagte, wie die schnellfüssigen Ziegen wieder so »g'schturä-n- und eirichtig« taten, so siegte doch bei den vernünftigen Eltern die kluge Einsicht über das kurzsichtige Mitleid.
Die Alten hatten einen Spruch: »D'r Müetter Sägä gaht bis vor d'Tirä und d's Vatters Sägä bis uff Rom.«
Frau Wipfli-Herger, 80 J. alt, Schattdorf
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.