1. a) Heitmenegg ist eine sonnige Alp im Schächental am Fusse des schroffen Windgällenstockes. Dort, in einer der vielen zu einem eigentlichen Dorf sich gruppierenden Hütten, diente einst treu und redlich ein furchtsamer Hüterbub. Eines Abends schickte ihn der Senn, bei der Quelle, die in das Dännäwäschbächli fliesst, zu unterst in der ausgedehnten Alp, Wasser zu holen. Während der ahnungslose Knabe gehorsam den Befehl ausführte, nahm sein übermütiger Meister die schwere, schmutzige Rossdecke vom Nischt, eilte auf Schleichwegen dem Knechtlein voraus und kam dann, in diese Hülle vermummt, gruchsend und murrend (oder mit feurigem Gesicht) von unten her gegen den Brunnen herauf, in der Absicht, dem g'furchtigen Büebli Schrecken einzujagen. Diesen jedoch erfasste plötzlich eine merkwürdige Erregung, »är syg ganz erwildet«. Rasch liest er Steine auf und wirft sie wie wütend gegen das Gespenst. Dieses stösst einen Schrei aus, rutscht abwärts, durch die steinige, stotzige Kähle hinunter und verschwindet. Jetzt trug der Knabe das Wasser zur Hütte und erzählte, wie es ihm ergangen sei. In diesem Augenblick warf es des Senns Kreuzfingerring zur Hüttentüre herein. Die Älpler lasen ihn auf und erbleichten. »Jetz hesch d'r Sänn ärriëhrt!« sagten sie zum Knaben. Sie gingen alle und suchten. Aber niemals wurde etwas von diesem Senn gefunden oder gesehn, nu Hütt nu Haar.
Wird ähnlich auch in Isental erzählt.
b) Andere Erzählart: Der Senn hatte dem Bub schon oft zu fürchten gemacht. Endlich sagte der letztere: »Dem wil-i scho nu Stei grächä!« Zuletzt: »Hinecht han'm de Stei 'grächet! Das wil-i scho erreischtä!« Der Hirt warnt den Senn. Der Bub packt Steine und erschlägt das Gespenst und rühmt dann in der Hütte: »Hinecht bin-em doch Meister wordä; hinecht han-i's erreischtet!« Sie haben nie etwas gefunden, als einen Zipfel der Decke, in dem ein Kreuzlein gezeichnet war, und darin die rechte Hand mit dem silbernen Kreuzfingerring.
Zacharias Imholz, Kaplan K. Truttmann u.a.
2. a) Ein Handbub der Etzlialp musste jeden Tag für den Senn das Wasser herbeischaffen, und zwar aus dem Dännäwäschbächli, das beim Rosstein vorbeifliesst. Der übermütige Senn schüttete es ihm nicht selten wieder aus, so dass er gezwungen war, am späten Abend nochmals zu holen. Eines Abends kam er ganz verstört zurück und sagte zum Hirt: »Jetz gahn-i nimmä; äs riëhrt m'r eisster Stei a.« »So riëhr äu!« riet ihm der Hirt. Zuerst wagte es der Bub nicht, den Rat zu befolgen. Eines Abends jedoch, als er die Bräntä an den Rücken nahm, um wieder Wasser zu holen, sagte er, dass Hirt und Senn es hörten: »Ja, wennd's hinecht nu einisch chunnt, sä tüen-i's bim Eid mit Steinä-n-ärriëhrä!« Und wirklich, es kam nochmals und bewarf ihn mit Steinen. Da ergriff auch der Handbueb einen hämpfligen Stein und warf ihn in der Richtung, woher die Steine gekommen. Da hörte er einen fürchterlichen Schrei. Als er in die Hütte kam, war der Senn nicht da. Er erzählte dem Hirt, wie es ihm gegangen; dieser wurde totenbleich und sagte: »Jetz hesch d'r Sänn ärriëhrt!« Sie suchten und suchten, aber von dem törichten Senn wurde nie eine Spur gefunden. Er war es gewesen, der dem Handbub zu fürchten gemacht.
b) Nach anderer Erzählart (Alpgnof) wickelte sich der Senn in eine Schnitzeldecke ein, wie man solche früher aus Resten oder Enden von Wollstoffen herstellte, oder in ein Fell oder in eine dürre Kuhhaut und legte sich in den Weg und machte dem Bub mit allerlei Gelärm zu fürchten. Man fand von ihm nichts mehr als drei bis vier Haare an einem Stein und den Fingerring, oder den Daumen seiner rechten Hand.
c) Dritte Erzählart: Der Senn, der zu fürchten machte, hatte ein Beil in der Hand. Von ihm fanden sie nichts mehr als die rechte Hand, worin er das Beil getragen und an deren Ringfinger ein Ring steckte, in dem der Name Jesus eingraviert war.
d) Ursern: Der Hirt machte den Tinder zu fürchten. Von dem getöteten Hirten fand man nur mehr den Daumen der rechten Hand. Mit dem hatte er oft im Leben das Kreuzzeichen gemacht.
3. Im Dubel in der Huoren-Brunnen im Tale von Römerstalden geschah es, dass ein Gespenst dem Handknab vorlag und ihm den Weg versperrte, wenn er abends ausging, um Wasser zu holen. Endlich nahm er eine Axt mit und erschlug es. Als er in die Hütte kam und rühmte, er habe das Gespenst erschlagen, wurden die Älpler bleich und sagten: »Jetz hesch d'r Sänn erschlagä!« Es war der Senn gewesen, der sich als Gespenst verkleidet hatte. Von ihm fanden sie gar nichts als seinen Kreuzfingerring.
Maria Josefa Aschwanden, 70 J. alt, Sisikon
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.